# taz.de -- Bachmannpreis – Nachlese: Wer euch schreibt | |
> Der Bachmannpreis verlief in diesem Jahr eher durchschnittlich. Einen | |
> politischen Text mit Nachhall gab es nur außerhalb des Wettbewerbs. | |
Bild: Preisträgerin Birgit Birnbacher (l.) mit Yannic Han Biao Federer. Sie ge… | |
KLAGENFURT taz | Um Worte zu ringen, um Urteile über Worte zu ringen, | |
stundenlang in einem kleinen, aufgeheizten Fernsehstudio auf Textblätter zu | |
starren, dabei zuzusehen, wie diese Texte wie in einem Kammerspiel | |
vorgetragen werden und wie sie von den von sieben Richterinnen und Richtern | |
– der Jury – akribisch zerlegt und filetiert werden, all das gibt es nur in | |
Klagenfurt, einmal im Jahr. Allein deshalb, weil er so anachronistisch und | |
analog daherkommt und wie eine eigene kleine Fiktion samt Fangemeinde, | |
Gossip und Klagenfurt-Mythen funktioniert, ist der Wettbewerb des | |
Ingeborg-Bachmann-Preises so wohltuend. | |
In erster Linie aber ist der Preis natürlich Standortbestimmung der | |
deutschsprachigen Literatur. Welche Sprache findet die junge Literatur – | |
angesichts eines Durchschnittsalters von 38 Jahren unter den sechs | |
Autorinnen und acht Autorinnen darf man wohl noch „jung“ sagen – für die | |
politisch-gesellschaftlichen Einschnitten der vergangenen Jahre? Wie kann | |
man großen Fragen der Gegenwart – Klima, Migration, Wohn- und | |
Arbeitsverhältnisse – literarisch abbilden? Gibt es überhaupt noch eine | |
adäquate literarische Sprache für die übergeschnappte Gegenwart? | |
Gemessen daran war der Bachmannpreis in diesem Jahr ein durchschnittlicher | |
Wettbewerb mit einigen Ausreißer_innen nach oben. Den mit 25.000 Euro | |
dotierten Hauptpreis bekommt am Ende eine Autorin, die in erster Linie von | |
der Arbeitswirklichkeit ihrer eigenen Generation erzählt: Die | |
Österreicherin Birgit Birnbacher wird von der Jury um Hubert Winkels für | |
ihre Erzählung „Der Schrank“ ausgezeichnet, die im Kern von prekären | |
Arbeitsverhältnissen handelt. | |
Die Erzählerin darin ist 38, hat Philosophie studiert, hangelt sich nach | |
ihrem Abschluss als „Neue Selbständige“ – so heißt das in Österreich | |
offiziell – von Job zu Job und nimmt an einer „Langzeitstudie über | |
Lebensverhältnisse und Neue Arbeit“ teil. Es ist eine Geschichte, die von | |
Überforderung handelt, vom täglichen Hustle. An einer Stelle kollabiert ein | |
Paketbote. | |
## Gekonnt und geschliffen, aber nicht besonders mutig | |
Ein etwas überraschender Siegertext ist es deshalb, weil sehr vieles | |
einfach so aufgeht in dieser Erzählung, weil – siehe Paketbote – | |
vorhersehbaren Figuren vorhersehbare Dinge zustoßen, weil er ansonsten in | |
einem akademischem Milieu spielt, von dem schon so oft in ähnlicher Art und | |
Weise erzählt wurde. Natürlich erzählt Birnbacher, die Soziologie und | |
Sozialwissenschaften studiert hat und als Sozialarbeiterin arbeitet, | |
gekonnt und geschliffen, aber es gab mutigere Entwürfe in diesem Jahr. | |
Dass [1][Leander Fischer] für „Nymphenverzeichnis Nummer eins Goldkopf“ den | |
Deutschlandfunk-Preis gewann, ist allein deshalb erfreulich, weil es einer | |
der wenigen humorvollen Beiträge war. | |
Der österreichische Autor skizziert minutiös eine Technik aus der Welt des | |
Fliegenfischens, er erzählt vom Angler Ernstl, für den das Binden der | |
perfekten Goldkopfnymphe – des Köders – das Höchste und Vollkommenste ist, | |
das ein Mensch in seinem Leben erreichen kann. Parallel wird in | |
Montagetechnik von einem pedantisch-strengen Musiklehrer erzählt, den es in | |
den Wahnsinn treibt, wenn seinen Schülern der Musiksinn fehlt. In inneren | |
Monologen beschimpft er sie als „Holzklotz“, „Periodenscheißer“, | |
„Korinthenreiter“, „Erbsenhengst“ und „Paragraphenkacker“. Eine lus… | |
sprachlich tolle Parabel über Perfektionsstreben, Obsessionen und die | |
Produktion von Genies. | |
## Publikum für Ronya Othmann | |
Zwei Texte wurden mit Preisen bedacht, die das Ringen um Sprache selbst zum | |
Thema hatten. Die Leipziger Autorin Ronya Othmann erhielt für ihren Text | |
„Vierundsiebzig“ den Publikumspreis, er handelt vom Genozid des IS an den | |
Jesiden. Es ist die eigene Familiengeschichte, die Othmann auf berührende | |
Art und Weise erzählt; und in der Suchbewegung hat der Text zweifellos | |
starke Passagen wie die folgende: „Angesichts der Gräueltaten und ich | |
streiche das Wort Gräueltaten angesichts der Verbrechen und ich streiche | |
das Wort Verbrechen, weil sowohl das Wort Gräueltaten als auch das Wort | |
Verbrechen nicht tragen […]“ | |
Allerdings hat der Text ein Gattungsproblem. Er ist irgendwo zwischen | |
Reportage und Essay anzusiedeln, und er unterläuft sich selbst, wenn er vom | |
Unsagbaren erzählt, davon, dass „alles schreiben […] für mich Fiktion“ … | |
und wenn er an anderen Stellen sehr deutlich zeigt: Wir können benennen, | |
berichten, Aussagen treffen. | |
Der 3sat-Preis ging dagegen an Yannic Han Biao Federer, der von der | |
Unmöglichkeit, von einer Trennung zu erzählen, erzählt. Federer zeichnet | |
ein weiches Männerbild, findige Verlags-PR-Menschen würden es | |
wahrscheinlich als Empfindsamkeit 2.0 oder 3.0 labeln. Aber zum einen | |
nervt, dass sich der Autor gleich mit dem ersten Satz selbst in die | |
Geschichte webt. Und es gibt furchtbar pathetische, kalauernde | |
Sprachbilder. Einmal kauft sich der Erzähler eine Seele, also ein Brötchen, | |
und kurz darauf, man ahnt es schon, schneidet er diese Seele in zwei | |
Hälften, sie zerfällt. Puh! | |
Hochverdient dagegen, dass Julia Josts Geschichte „Unweit vom Schakaltal“ | |
nicht leer ausging – sie erhielt den firmengestiften Kelag-Preis. Bei | |
vielen anderen Autor_innen in diesem Jahr konnte man fast den Eindruck | |
gewinnen, sie nähmen das politische Grauen, das sich um sie herum abspielt, | |
gar nicht wahr. Hier ist das anders. Vielleicht, weil Jost ganz in der Nähe | |
von Klagenfurt aufgewachsen ist und für sie Burschenschaftler, | |
Kameradschaften und Männerbünde eine so natürliche Umgebung sind wie die | |
Alpen. | |
Jost kehrt in ihrem Text den Schmutz unter dem Kärntner Teppich hervor, und | |
sie findet dort jede Menge nationalsozialistische Restposten, unter anderem | |
ein Messer mit der SS-Formel „Meine Ehre heißt Treue“. Am Ende dieser | |
Geschichte fällt ein Kind in den Brunnen und das Messer mit ihm. Das Messer | |
wird gerettet. | |
## Kämpferische Zwischentöne | |
Einen politischen Beitrag mit Nachhall gab es zudem außerhalb des | |
Wettbewerbs: die Eröffnungsrede von [2][Clemens J. Setz], die den Namen | |
„Kayfabe und Literatur“ trug. Setz stellt darin Analogien zwischen dem | |
Wrestling und der Literatur her, er arbeitet heraus, dass Storylines und | |
„Kayfabes“ – in der Wrestling-Fachsprache die Rollen, die eingenommen | |
werden und aus denen man nicht fallen darf – nicht nur die Literatur | |
dominieren, sondern dass Fiktion und Wirklichkeit zunehmend verschwimmen. | |
Dass Fiktionen die Welt beherrschen. | |
Er verbindet dies mit einem politischen Appell. Die Rechtspopulisten und | |
-extremen, so Setz, bemerkten gar nicht, von welch abstrusen Fiktionen sie | |
sich leiten ließen: „Ihr wisst gar nicht mehr, wer euch schreibt.“ | |
Besser hat in jüngerer Zeit niemand von der Marionettenhaftigkeit der AfD- | |
und FPÖ-Anhänger gesprochen, dazu hat sein Text schön kämpferische | |
Zwischentöne: „Den Rechtsradikalen und Rechtspopulisten […] kann man | |
getrost die Mitteilung machen: Natürlich werdet ihr verschwinden. […] Man | |
sieht euch bereits an den Rändern flackern. Euer System ist ein | |
geschlossenes, und wie alle geschlossenen Systeme erstickt es irgendwann an | |
sich selbst.“ | |
Von den politischen Zäsuren jüngerer Zeit, die wir mit Syrien, mit Trump, | |
Brexit, Fake News und Co. erlebt haben, auch von den aktuellen Überthemen | |
Migration und Klima war ansonsten erstaunlich wenig die Rede. Bei den | |
Vorträgen der rein historischen Texte von Martin Beyer, der über die | |
Hinrichtung der drei Weiße-Rose-Mitglieder Hans Scholl, Sophie Scholl und | |
Christoph Probst schreibt („Und ich war da“), und Silvia Tschui, die von | |
Vertreibungen aus den Ostgebieten erzählt („Der Wod“), gab es eine an den | |
Fall Takis Würger anschließende Debatte, wie man sich historischen Stoffen | |
nähern sollte und wie nicht. | |
Insbesondere Beyer bleibt in der Tat den Nachweis schuldig, warum die Weiße | |
Rose in seiner Geschichte überhaupt auftaucht, wenn doch nur ihre | |
Hinrichtung als Setting für diese Story dient, die Figuren aber sonst | |
völlig leer bleiben. | |
Was war sonst noch? Hitze natürlich. Und hitzige Debatten in der Jury, die | |
auch ständiges Fächern kaum abmildern konnten. Etwas unverständlich blieb, | |
warum Katharina Schultens von der Jury zunächst gepriesene | |
Science-Fiction-Erzählung „Urmünder“ nicht unter den sieben Finalist_innen | |
war. Und die Lesung von Tom Kummer, dessen Name in diesem Programm im Jahr | |
nach Relotius wie ein Reizwort aufflackerte, war erstaunlich erwartbar. | |
Natürlich kann Kummer erzählen, aber das altbacken männliche Pathos kann | |
schon auch nerven (schauen Sie sich mal das Video an, mit dem er sich beim | |
Bachmannpreis vorstellt, dann wissen Sie Bescheid). | |
Demgegenüber schimmerten in den Texten von Yannic Han Biao Federer und | |
Lukas Meschik („Mein Vater ist ein Baum“) neue Männerbilder durch. Da aber | |
in diesen Sprechpositionen keine deutliche Haltung zu erkennen war, gab es | |
wenig Reibungsfläche. Wie überhaupt ein bisschen mehr, an dem man sich | |
hätte stoßen und abarbeiten können, gut gewesen wäre. | |
30 Jun 2019 | |
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## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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