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# taz.de -- Monika Helfers Roman „Die Bagage“: Die Schönsten am Ende der W…
> Monika Helfer erzählt im Roman „Die Bagage“ von der Familie ihrer
> Großmutter: eine erstaunliche Geschichte von Armut, Krieg – und Liebe.
Bild: Liest mit heiser fließendem Singsang: Autorin Monika Helfer
Wie muss das sein, ein Leben lang anders zu sein als alle anderen? Und das
nicht so sehr, weil man die Frau des ärmsten Bauern im ärmsten Tal des
Landes ist, sondern vor allem, weil man dazu noch die schönste ist? Was
klingen könnte wie der Anfang eines Märchens, ist aber die erstaunliche
Geschichte, die die österreichische Autorin Monika Helfer in ihrem
autobiografischen Roman „Die Bagage“ von der Familie ihrer Großmutter
erzählt.
Denn so nennen sie alle, „die Bagage“, was sich damals auf das „Gepäck“
bezogen habe, das ihre Vorfahren als umherziehende Träger, „dem untersten
aller Berufe“, zu schleppen gehabt hatten. Doch woran Josef und Maria
Moosbrugger (die wirklich so heißen, was der Geschichte dann doch wieder
ebenso etwas Märchenhaftes verleiht wie Marias schneewittchenhaftes
Aussehen und ihrer beider sieben Kinder) ihr Leben lang zu tragen haben,
ist nicht nur ihre Armut, die sie auf das billigste, schlechteste Stück
Land am hintersten Ende eines Vorarlberger Tals verschlägt.
Sondern Maria und Josef sind eben auch die schönsten Menschen weit und
breit. Josef dazu noch der klügste und stillste, der auch im Winter jeden
Tag im eiskalten Brunnen badet und als Einziger im Dorf krumme
„Geschäftchen“ mit dem Bürgermeister machen darf. Das schürt natürlich …
und Missgunst im Dorf, bei den Frauen, die gerne auch so schön wären wie
die Maria, und bei den Männern, die gerne anstelle vom Josef wären, an der
Seite von der Maria.
So beginnt Helfer passend ihre Geschichte, als Josef im Spätsommer 1914 in
den Ersten Weltkrieg ziehen muss und die Männer im Dorf sich plötzlich
Chancen auf seine Frau ausrechnen. Und doch ist keineswegs irgendetwas
klar, als Josef im Herbst 1918 als Einziger im Dorf aus dem Krieg
zurückkommt und die kleine Margarete, die später die Mutter Monika Helfers
werden sollte, nicht für sein Kind hält – obwohl er durchaus der Vater sein
könnte.
## Vor den „Beschützern“ beschützen
Helfer erzählt diese Geschichte nicht einfach chronologisch, sondern mit
schroffen Zeitsprüngen, die die Erinnerungsarbeit der Erzählerin
widerspiegeln. Immer wieder greift sie vor, wenn sie es „einfach nicht
aushält“ abzuwarten, bis etwas an der Reihe wäre. Oder sie stellt den
Zeitwinkel wieder ganz zurück auf ihre Erzähl-Gegenwart, in der sie erst
dann das Herz hatte, der Geschichte „nachzuforschen“, als sämtliche
Geschwister ihrer Bagage schon gestorben waren bis auf eines.
Und so wird auch die fast hundertjährige Tante Käthe mit zur Erzählerin,
die Zweitälteste der sieben Kinder, die nicht nur nach dem frühen Tod der
Eltern die Geschwister aufzog, sondern auch nach dem frühen Tod der
Schwester Grete deren Kinder, unter ihnen Monika.
Es ist eine Geschichte davon, wie der Krieg seine furchtbaren Spuren auch
dort hinterlässt, wo er nicht gekämpft wird, am Ende der Welt, im
hintersten Tal der Vorarlberger Alpen, wo er die notdürftig eingeübte
Ordnung aus ihrem fragilen Gleichgewicht bringt.
Neben Maria rückt vor allem der zweitälteste Sohn Lorenz ins Zentrum, der
seinem Vater so ähnlich ist und – zu Kriegsbeginn gerade einmal neun Jahre
alt – sehr schnell erwachsen werden muss, um den Platz des Vaters als
Ernährer und Überlebenskünstler einzunehmen, sich Respekt unter den
Dorfbewohnern – und den Lesern – zu verschaffen und seine Mutter vor ihren
vermeintlichen Beschützern zu beschützen.
## Feinsinnige Lakonie
Mit komplizierten Familiengeschichten aus Kinderperspektive ist Monika
Helfer bekannt geworden, etwa mit ihrem Roman „Oskar und Lilli“ von 1994,
dessen Verfilmung unter dem Titel „Ein bisschen bleiben wir noch“ demnächst
ins Kino kommt. 2017 war ihr Roman „Schau mich an, wenn ich mit dir rede!“
für den Deutschen Buchpreis nominiert. „Die Bagage“ erzählt nun davon, was
für ein familiäres Gepäck die Autorin selbst mit sich herumträgt. Übrigens
nicht nur aus der fernen Vergangenheit, auch der tragische Tod der eigenen
Tochter, Paula Köhlmeier, wird thematisiert. Es scheint ein wenig, als
könnten die Frauen der Bagage und ihrer Nachkommen nur entweder jung
sterben – oder alt werden, um davon zu erzählen.
Monika Helfer tut das mit atemberaubend beiläufiger Eindringlichkeit und
einer feinsinnigen Lakonie, die fast immer den richtigen, berührenden Ton
zu treffen vermag. Tatsächlich zu Ohren bekommt man das im Hörbuch, in dem
die Autorin aus ihrem heiser fließenden Singsang heraus immer wieder in
feinen Nuancen die eigene Bewegtheit in den Text und seine Bewohner
hineinbringt.
Es ist erstaunlich, welch einen Kosmos an komplexen Figuren Helfer auf
diesen gerade einmal 160 Seiten aufzuspannen gelingt. Mit nur wenigen
scharf gezeichneten Strichen tritt uns diese ganze Bagage mit einem
bleibenden Eindruck entgegen.
Im Drehpunkt dieses Kosmos aber steht Helfers übermenschlich schöne
Großmutter Maria, die ihren Josef als den außergewöhnlichen Mann, der er
war und ihr ganz entsprach, bedingungslos lieben konnte und die doch auch
noch eine größere Liebe erleben sollte. Ihre Geschichte strahlt selbst so
hell und schneeweiß wie die Wäsche, die sie tagtäglich umständlich wäscht,
um in all ihrer Armut nicht so schmutzig, stinkend und gewöhnlich zu
erscheinen wie alle anderen.
2 Mar 2020
## AUTOREN
Tom Wohlfarth
## TAGS
Schriftstellerin
Roman
Österreich
deutsche Literatur
Missbrauch
Weltliteratur
Literatur
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