# taz.de -- Bachmannpreis – Tag 1: Löcher im Fortschritt | |
> In Klagenfurt hat der Bachmann-Preis begonnen. Am ersten Tag überzeugen | |
> vor allem eine feministische Zukunftsvison und eine Weltall-Novelle. | |
Bild: Sorgte für einen starken Auftakt: die Berliner Autorin Katharina Schulte… | |
KLAGENFURT taz | Es ist ein kleines, weißes Podest, das nun für ein paar | |
Tage die Welt bedeutet, zumindest die Literaturwelt. Die 43. Tage der | |
deutschsprachigen Literatur haben in Klagenfurt begonnen; sie sind ein | |
verlässlicher Seismograf für die Entwicklungen in der Literaturszene, | |
Betriebstreffen sowieso, und legendär ist ihr Setting: im | |
mucksmäuschenstillen ORF-Fernsehstudio sitzen die Teilnehmer_innen – dieses | |
Jahr acht Autorinnen und sechs Autoren – den sieben Jurorinnen und Juroren | |
gegenüber. Ein Live-Showdown. | |
Mit zwei starken Erzählungen beginnt Tag 1. Die Berliner Autorin | |
[1][Katharina Schultens], die bislang einige Gedichtbände veröffentlicht | |
hat, liest einen Auszug aus einem Roman namens „Urmünder“, an dem sie | |
gerade arbeitet – ein düsteres, erratisches Textgeflecht, eine Erzählung, | |
die im Jahr 2184, zweihundert Jahre nach Orwells „1984“, spielt. Zentrales | |
Motiv ist das des Gebärens, auch im Sinne der katholischen Empfängnis (die | |
Figuren heißen in Variation „Marya“, „Maria“ und „Mariä“). | |
Der bessere Mensch aber muss erst noch geboren werden, weiß dieser Text, | |
und wenn jemand in der Handlung die kaputte, zerrüttete Welt rettet, dann | |
ist es die Frau, die neues, die anderes Leben gebiert. Die Story skizziert | |
ein Matriarchat als Zukunftsentwurf, zugleich einen undurchsichtigen Topos, | |
in dem Chimäre, also Mischwesen, eine bedeutende Rolle einnehmen. | |
Schultens' sprachgewaltige, feministische Science-Fiction-Literatur | |
überzeugt die Juror_innen durchweg, eine „Dechiffrieraufagbe | |
sondergleichen“, wie der Juryvorsitzende Hubert Winkels es nennt, sei der | |
Text dennoch. Wie es gute Literatur eben ist. | |
Eine kluge Novelle in doppeltem Sinne legt die Wiener Autorin [2][Sarah | |
Wipauer] vor. Ihr Text „Raumstation Hirschstetten“ verknüpft eine | |
historische mit einer aktuellen Begebenheit: Zum einen geht er zurück auf | |
einen Doppelselbstmord des Kinderarztes und Forschers Clemens von Pirquet | |
und dessen Frau im Jahr 1929, zum anderen auf das Ende 2018 aufgetauchte | |
Loch im russischen Raumschiff Sojus. Daraus verwebt Wipauer in | |
unspektakulärem Tonfall, aber mit umso subtilerem Humor, eine Erzählung | |
über den Fortschritt der Menschheit und wo eigentlich die Löcher im | |
Forschritt herkommen, die dann irgendwann zu stopfen sind (hier übrigens | |
wieder von einer Frau). | |
Neben Schultens und Wiepauer darf sich die in der Nähe von Klagenfurt | |
aufgewachsene Regisseurin und Autorin [3][Julia Jost] Hoffnungen auf einen | |
Preis machen. Ihre Erzählung „Unweit vom Schakaltal“ befasst sich mit den | |
erzreaktionären und rechtsextremen Strömungen im Lande und wird von der | |
Jury recht einhellig als in bester boshaft-österreichischer Traditon | |
stehende Literatur gewürdigt. | |
Es sind die konventioneller erzählten Texte, die an diesem ersten Tag das | |
recht hohe Niveau nicht ganz halten. Die Züricher Autorin [4][Silvia | |
Tschui] stellt „Der Wod“ vor, eine Story zweier Brüder, die zum Ende des | |
zweiten Weltkrieges vor Vertreibungen im nicht näher benannten Osten | |
fliehen. Tschui trägt zwar leidenschaftlich und gut vor, die Handlung steht | |
aber zu sehr für sich, bleibt hermetisch, kontextualisiert nicht. Und es | |
gibt einen merkwürdigen, unaufgelösten Kontrast zwischen dem Tonfall der | |
Erzählung und der Brutalität des Geschehens. | |
Die Schweizerin [5][Andrea Gerster] erzählt dagegen in „Das kann ich“ zum | |
Ende des Wettbewerbstags die Geschichte einer Mutter und Großmutter, die | |
‚nur das Beste‘ für ihren Sohn und ihre Schwiegertochter will, deren Wesen | |
und deren Lebenslügen sich aber nach und nach entfalten. Die psychologische | |
Erzählung wirkt im Ganzen zu langsam, zu langatmig, zu klischeebeladen. | |
Hingewiesen sei unbedingt noch auf die [6][Eröffnungsrede am Mittwochabend] | |
von Clemens J. Setz, der darin einen Bogen von den Storylines des | |
Wrestlings („Kayfabe“) zur Literatur zog, dessen Vortrag aber vor allem mit | |
kämpferischen politischen Zwischentönen überzeugte, wenn er etwa davon | |
sprach, die „geschlossenen Systeme“ der Rechtsextremen und Rechtspopulisten | |
erstickten „wie alle geschlossenen Systeme irgendwann an sich selbst“. | |
27 Jun 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://bachmannpreis.orf.at/stories/2978635/ | |
[2] https://bachmannpreis.orf.at/stories/2978638/ | |
[3] https://bachmannpreis.orf.at/stories/2978630/ | |
[4] https://bachmannpreis.orf.at/stories/2978636/ | |
[5] https://bachmannpreis.orf.at/stories/2978624/ | |
[6] https://bachmannpreis.orf.at/stories/2987078/ | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
## TAGS | |
Ingeborg-Bachmann-Preis | |
Klagenfurt | |
43. Tage der deutschsprachigen Literatur | |
Literatur | |
43. Tage der deutschsprachigen Literatur | |
deutsche Literatur | |
Ingeborg-Bachmann-Preis | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Ingeborg-Bachmann-Preis | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Bachmannpreis – Nachlese: Wer euch schreibt | |
Der Bachmannpreis verlief in diesem Jahr eher durchschnittlich. Einen | |
politischen Text mit Nachhall gab es nur außerhalb des Wettbewerbs. | |
Bachmannpreis – Tag 3: An der Angel | |
Endlich lernen wir etwas über das Fliegenfischen beim Bachmann-Wettbewerb | |
in Klagenfurt! Eine Takis-Würger-Reloaded-Debatte gibt es auch. | |
1. Festival „Literatur auf der Parkbank“: Schlendern, verweilen, plaudern | |
Am 30. Juni lesen 50 AutorInnen im Tiergarten aus ihren Werken. Und wollen | |
dabei mit dem Publikum ins Gespräch kommen. | |
Bachmannpreis – Tag 2: Im Schwindel | |
Am zweiten Wettbewerbstag in Klagenfurt dominieren schwere Themen: Genozid, | |
Trauer, Trennung. Diskutiert wird auch über Möwenkacke. | |
Literaturpreise gehen an Frauen: Das Jahr der Autorinnen | |
Alle wichtigen deutschen Literaturpreise wurden in diesem Jahr von | |
Schriftstellerinnen abgeräumt. Was ist da geschehen? | |
Der Erzählstil der Bachmannpreisträgerin: Das renitente Ei | |
Kunstvolle Irritation: Die Erzählung, mit der Sharon Dodua Otoo den | |
Bachmannpreis gewann, lässt einen wie auf rohen Eiern gehen. | |
Übersetzung: Kostbar ist der Korridor | |
Vier Übersetzer und der Bachmann-Preisträger Lutz Seiler kamen am Montag im | |
Literarischen Colloquium Berlin zusammen. Gibt es Seilers Text "Turksib" | |
bald auf Makedonisch? |