# taz.de -- Der Erzählstil der Bachmannpreisträgerin: Das renitente Ei | |
> Kunstvolle Irritation: Die Erzählung, mit der Sharon Dodua Otoo den | |
> Bachmannpreis gewann, lässt einen wie auf rohen Eiern gehen. | |
Bild: Der Umgang mit Eiern bedarf Fingerspitzengefühls – sonst werden sie re… | |
Wer spricht? Dass die Erzählung „Herr Gröttrup setzt sich hin“, mit der | |
die bis dahin weithin unbekannte Autorin [1][Sharon Dodua Otoo den | |
Bachmannpreis gewann], streckenweise von einem renitenten Ei erzählt wird, | |
das sich weigert, hartgekocht zu werden, hat für Aufsehen gesorgt. Es ist | |
ja auch ein sehr lustiger und auch ziemlich tiefer Einfall. Denn der | |
Wallungswert, den ein Ei zwischen spießigem Frühstücksei und symbolischen | |
Urpunkt alles Lebendigen aufruft, ist groß. | |
Aber dass ein Ei erzählt, stimmt natürlich, wenn man es genau nimmt, so gar | |
nicht. Als Erzählinstanz tritt vielmehr ein körperloses Wesen auf, das sich | |
verwandeln kann und gerade eben in ein Ei verwandelt hat. Im Jahr 1862, so | |
wird ausdrücklich erwähnt (den unbestimmt bleibenden Stellen in der | |
Erzählung stellt Sharon Dodua Otoo überkonkrete Details an die Seite), ist | |
dieses Wesen das Epizentrum eines Erdbebens in Accra gewesen. Bei Helmut | |
Kohls vierter Wiederwahl wäre es gerne ein roter Teppich gewesen, nur um | |
den ewigen Kanzler zum Stolpern zu bringen zu können (ein weiterer lustiger | |
Einfall). Außerdem war das Wesen auch schon mal der „letzte Lippenstift“ | |
von Irmi Gröttrup, der Ehefrau der titelgebenden Figur. | |
Also, wer oder was ist dieses Wesen? Man weiß es nicht. Man muss es auch | |
gar nicht wissen. Die ganze Erzählung ist leicht genug, dass man gern dabei | |
mitmacht, es in der Schwebe zu lassen. In der Eigenrealität des Textes hat | |
es jedenfalls durchaus Realitätsgehalt. Es ist ungeboren, wird gesagt. Es | |
gibt in dem Text „große Verteilungen“, in denen es gerne einen | |
Menschenkörper bekommen würde. Die Gröttrups wüssten mehr, wenn sie Ada, | |
ihre Putzfrau, gefragt hätten. Haben sie aber nicht. So bleibt das Wesen | |
eine Leerstelle. | |
Auch sonst platziert Sharon Dodua Otoo in die Erzählung lang nachwirkende | |
Stolpersteine. Den titelgebenden Herrn Gröttrup hat es zum Beispiel | |
tatsächlich gegeben (wie es im Übrigen auch das Erdbeben in Accra real | |
gegeben hat). Dieser Helmut Gröttrup war Raketeningenieur und Erfinder, | |
ganz so wie es im Text steht. Er führte ein von sich aus fast schon | |
literarisches Leben zwischen Naziregime, Sowjetunion und alter | |
Bundesrepublik. Nur ist der historische Helmut Gröttrup 1981 gestorben, | |
während die Erzählung ausdrücklich eine Woche nach Kohls vierter | |
Wiederwahl, also 1994, spielt. | |
## Hoch seltsame Eigenwelt | |
Es ist eine hoch seltsame Eigenwelt, in die einen Sharon Dodua Otoo führt. | |
Wenn man die knappe Geschichte zum zweiten Mal liest (und auch zum dritten | |
Mal), spürt man, als ob man sich auf fremden Terrain bewegt, jedem Satz | |
nach, um nur ja keinen Hinweis zu verpassen, ob hinter alldem nicht doch | |
eine einfache Erklärung stehen könnte. Wenn es hier kein Kalauer wäre, | |
könnte man sagen: Man geht beim Lesen wie auf rohen Eiern. Und dass sie | |
das zu erzeugen versteht, ist das eigentlich Kunstvolle an der Geschichte. | |
Tatsächlich liegt die literarische Kraft des Textes in der Irritation, die | |
er herzustellen vermag, und nicht so sehr in seinen gegenständlichen | |
Passagen. So geht die Schilderung des Frühstücks der Eheleute Gröttrup, | |
inklusive Ei-Desaster, schon sehr in Richtung einer Karikatur. Der | |
Kontrollwahn, die Sprachlosigkeit unter den Eheleuten, die leer laufenden | |
Umgangsformen – in einer schlichteren Erzählung wären das billige Mittel, | |
um Einverständnis mit dem Leser, der Leserin herzustellen. Wir wären | |
schließlich niemals so spießig wie dieser Herr Gröttrup, selbst wenn wir | |
Frühstückseier mögen. Zudem gibt es gerade im ersten Drittel einige | |
sprachliche Überdeutlichkeiten und Schnitzer. So schaute Herr Gröttrup | |
„selbstgefällig“ auf die Uhr, das ist zu dick. | |
Doch auch schon diese Ehekonstellation ist komplexer, als es zunächst | |
scheint. Irmi Gröttrup, die Ehefrau, ist keineswegs eine durchgehend | |
positiv besetzte Gegenfigur zu ihrem ordnungsliebenden Ehemann. Auch sie | |
ignoriert Ada, die Putzfrau – die sich schließlich als so etwas ist wie die | |
eigentliche Herrscherin hinter den Kulissen erweist; Ada bringt die Eier | |
mit, sie weiß etwas, was die Gröttrups nicht fragen. | |
Kann gut sein, dass man gerade diese Konstellation von Ada und Ei, falls | |
man sie so oder so ähnlich in einem Roman breiter ausgeführt sehen würde, | |
als etwas zu esoterisch wahrnähme. Aber auf dem knappen Raum dieser | |
Erzählung bewahrt sie ein schönes Geheimnis. Die kritische Distanz zum | |
Spießerleben, die der Text transportiert, kennt man. Aber wie Otoo sie | |
auflöst und weiterführt, das kennt man so eben noch nicht. | |
## Gegen die weiße Hegemonie | |
Sharon Dodua Otoo ist Britin, die in Deutschland lebt. Sie schreibt erst | |
seit Kurzem auf Deutsch. Und sie schreibt sehr bewusst als schwarze Autorin | |
in einer von weißer Hegemonie geprägten Gesellschaft (wenn „jemensch“ Her… | |
Gröttrup „als ‚weiß‘ bezeichnet hätte, hätte er dies entweder als Syn… | |
für ‚deutsch‘ aufgefasst oder sich gefragt, ob dies als Beleidigung zu | |
verstehen war“, heißt es im Text). | |
Wenn man ihre Erzählung gelesen hat, findet man aber sehr einleuchtend, | |
dass der Begriff „Migrantenliteratur“, mit dem sie noch vor wenigen Jahren | |
belegt worden wäre, inzwischen nicht mehr so häufig zu hören ist. Er hat | |
doch zu sehr festgeschrieben, was das vermeintlich Eigene und das | |
vermeintlich Fremde ist. Dabei sind doch gerade die Mischungen zwischen | |
beidem so interessant, und jede dieser Mischungen liest sich anders. | |
Die Fremden in ihrem eigenen Leben sind natürlich die Gröttrups selbst. | |
Das ist eine ziemlich klassische literarische Wendung, die Sharon Dodua | |
Otoo mit ihrem kühlen Blick wieder zum Leben erweckt. | |
12 Jul 2016 | |
## LINKS | |
[1] /Kommentar-Bachmann-Preistraegerin/!5318615 | |
## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
## TAGS | |
Ingeborg-Bachmann-Preis | |
Sharon Dodua Otoo | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten | |
Spießer | |
Ingeborg-Bachmann-Preis | |
Ingeborg-Bachmann-Preis | |
Klagenfurt | |
Ingeborg-Bachmann-Preis | |
Ingeborg-Bachmann-Preis | |
Klagenfurt | |
taz lab 2024 | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Bachmannpreis – Tag 1: Löcher im Fortschritt | |
In Klagenfurt hat der Bachmann-Preis begonnen. Am ersten Tag überzeugen vor | |
allem eine feministische Zukunftsvison und eine Weltall-Novelle. | |
Bachmann-Preis für Tanja Maljartschuk: Klappe halten und nachdenken | |
Auf den Tagen der deutschsprachigen Literatur gab es neben Tanja | |
Maljartschuk eine weitere Gewinnerin: die Sprache selbst. | |
Kommentar Bachmann-Preisträgerin: Mehr als nur ein Ei | |
Sharon Dodua Otoo setzt sich seit Jahren für mehr Sichtbarkeit von | |
Schwarzen Frauen ein. Ihre Ehrung setzt ein starkes Signal. | |
40. Verleihung des Bachmann-Preises: Die stromernden Ichs | |
Drei Tage lang lasen AutorInnen am Wörthersee um die Wette. Fast alle Texte | |
erzählten aus einer Innenansicht heraus. | |
Bachmann-Preis für Sharon Dodua Otoo: Mit dem Ei zum Gewinn | |
Für ihre Satire „Herr Gröttrup setzt sich hin“ bekommt die Britin Sharon | |
Dodua Otoo den Bachmann-Preis. In dem Text wagt ein Frühstücksei den | |
Aufstand. | |
Bachmann-Preis 2016, 3. Tag: Jemensch mag sein Ei nicht | |
Swing und Hass: Einen Tag bevor der Bachmann-Preis verliehen wird, dreht | |
man in Klagenfurt noch mal auf. Es gibt einen harten Verriss – und eine | |
Favoritin. | |
Eklat bei taz.lab-Veranstaltung: Eine einzige Enttäuschung | |
Warum Sharon Otoo als Podiumsgast auf dem taz.lab am 20. April in Berlin | |
eine Veranstaltung vorzeitig verließ, erklärt sie nun hier. |