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# taz.de -- Bachmann-Preis für Tanja Maljartschuk: Klappe halten und nachdenken
> Auf den Tagen der deutschsprachigen Literatur gab es neben Tanja
> Maljartschuk eine weitere Gewinnerin: die Sprache selbst.
Bild: And the winner is… die ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk …
Wir stehen bei den Verlassenen“, sagte der Schriftsteller Feridun Zaimoglu
in seiner kämpferischen Eröffnungsrede und viele Beiträge beim diesjährigen
Wettlesen in Klagenfurt haben es sich zur Aufgabe gemacht, Geschichte von
solchen verlassenen Charakteren zu erzählen. Allen voran begeisterte
Bachmannpreisträgerin Tanja Maljartschuk die Jury mit ihrer Geschichte
„Frösche im Meer“, die von der eigenwilligen Beziehung einer dementen Frau
und ihrem jungen Freund erzählt, der zwar keinen Pass mehr in der Tasche
hat, dabei aber das Herz an der richtigen Stelle trägt. Lakonisch und
humorvoll erzählt diese Autorin von Situationen, die doch so traurig sind.
Nicht zuletzt beweist die Gewinnerin auch, dass es in der deutschsprachigen
Literatur keine Grenzen mit Stacheldraht und keine Transitlager, sondern
Aufnahmebereitschaft gibt, und dass am Ende alle davon profitieren.
Nach seiner Herkunft befragt, antwortete der Schriftsteller Bov Bjerg in
einem Interview mit schelmischem Lächeln: „Ich komme aus dem Internet.“ Zum
einen entzog sich Bjerg damit einer heimatlichen Verortung, zugleich aber
distanzierte sich der Bestsellerautor („Auerhaus“) auch von jener Gegend,
die ihn bis heute doch mehr zu beschäftigen scheint, als zunächst vermutet.
Es ist sicher kein Zufall, dass der 1965 als Rolf Böttcher im schwäbischen
Heiningen geborene Autor einen Künstlernamen annahm und sich damit nicht
nur auf der literarischen Bühne eine neue Identität ausdachte. Wer seinen
mit dem Deutschlandfunk-Preis ausgezeichneten Wettbewerbsbeitrag
„Serpentinen“ nach dem ersten Hören noch einmal las, konnte neben der
berührenden Vater-Sohn-Geschichte den Versteinerungen einer Figur
nachspüren, die ohne Ausweispapiere in der süddeutschen Provinz sich
zurechtfinden muss.
Die schöne und öde Schwäbische Alb, verschandelt von Großbauprojekten, gibt
mit Orten wie Laichingen und Bergen wie den Galgenbuckel das Setting ab für
den taumelnden Helden, der nicht weiß, ob er seinem Sohn erzählen soll,
dass sich Urgroßvater, Großvater und Vater umgebracht haben. Ein gelungener
Text, auch weil der Autor, von dem man einen eher lustigen
Lesebühnenbeitrag erwartete, literarisches Gespür bewies für den Ernst der
aktuellen Themenlage. Bjergs ausgefeilte Erzählung wäre mit Sicherheit auch
für den Hauptpreis gut gewesen.
## Eine wahre Entdeckung des Wettlesens
Geschichten vom Sterben wurden viele erzählt in Klagenfurt. Bei der jungen,
aber resoluten Österreicherin Raphaela Edelbauer geht es gleich zu Beginn
des Bewerbs in ein Bergwerk, das verfüllt werden soll, um den Einsturz
eines Alpendorfs zu verhindern und um ein Erinnerungsloch zuzuschütten. Die
schweigenden Dörfler wollen sich nicht länger an ein grauenhaftes
Verbrechen erinnern, das an diesem Ort begangen wurde. Edelbauer erhielt
den Publikumspreis, nachdem sie auch bei den Abstimmungen aller anderen
Preise im Rennen war. Ihr Text ist die wahre Entdeckung des Wettlesens. Die
28-Jährige sollte in einigen Jahren noch mal antreten, um dann den
Hauptpreis abzuräumen.
Auch Stephan Lohse, Schauspieler und spätberufener Schriftsteller, betrieb
mit seinem Text literarische Erinnerungsarbeit, indem er zwei jugendliche
Kiffer in der suburbanen Wildnis über die Ermordung eines Freiheitskämpfers
im okkupierten Kongo und einem längst vergangenen, aber immer noch
fortwährenden Freiheitskampf palavern lässt. Ein Beitrag, der zwar leer
ausging, aber mit Sicherheit in Romanform noch weitere Aufmerksamkeit
erhalten wird.
Die zwischen Solingen und Leipzig pendelnde Özlem Özgül Dündar gewann den
Kelag-Preis mit einer rasanten Wehklage in mehreren Stimmen, gesetzt ohne
Punkt und Komma, überschrieben mit „und ich brenne“. Mütter kämpfen darin
um ihre Kinder und gegen das Feuer des Rassismus. Ein welthaltiger Text,
wie Kritiker zu sagen pflegen, der aber in seiner sprachlichen
Dringlichkeit zu überzeugen wusste.
## Kein Mainstream in deutschsprachiger Literatur
Nicht nur die elegische Trauergeschichte „Warten auf Ava“ von Anna Stern
(3sat-Preis), auch die popliterarischen Exerzitien von Joshua Groß in
„Flexen in Miami“, die Austria-Dekonstruktion von Stephan Groetzner sowie
die provokative, gerade in der Ausformulierung missglückte Geschichte einer
Erotomanin von Corinna Sievers zeigten, dass es derzeit im Grunde keinen
Mainstream, sondern vielmehr sehr divergierende Poetologien in der jungen
deutschsprachigen Literatur gibt. Die Vielfalt drückte sich auch in den
Jury-Kommentaren aus.
Von ihren Bewertungen erhielt man einen Überblick nicht nur von
literaturwissenschaftlichen Schlagworten, sondern von einer textkritischen
Diversity. Von gewollten Fehlern und Well-made-Erzählungen war die Rede,
von Litanei und Parodie, von Montage und Collage, von Arrangements des
Gefühls, von Rätseln und Mysterien, polierter Sprache und der fehlenden
Radikalität, von überinstrumentierten und überfrachteten, aber auch zu
schlichten Beiträgen, von einem Kammerspiel mit Regieanweisung und der
Umkehrung einer Männerfantasie, von einem organischen Werk und von einer
Parabel der Selbstauslöschung, von einer schönen Geschichte und von einer
Migrationsgroteske, von rasanten Dialogen und motivisch zu dichten
beziehungsweise inspirierend dichten Erzählschichten, vom Crescendo und
Decrescendo in einer Erzählung, welche die Sprache selbst zum
Hauptschauplatz macht.
## Für Populisten, die Angst vorm Fremden haben
Es gehört zu den etwas lästigen Ritualen des Festivals, dass in den
Nachbetrachtungen zum einen die Textauswahl, zum anderen die Arbeit der
Jury kritisiert wird. Die Rollen waren dabei klar verteilt. Während
Deutschlandfunk-Literaturredakteur Hubert Winkels wieder den altväterlichen
Vorsitzenden gab, der seine Mitdiskutanten aus der Reserve zu locken und
dann wieder miteinander ins Gespräch zu bringen vermochte, gab Neuling Insa
Wilke mit fernseherfahrenem Charme die penible Analytikerin, zog die
Schweizer Literaturprofessorin Hildegard Keller, die in der Vergangenheit
gerne ihre Unentschiedenheit zur Schau stellte, dieses Mal deutlich
Position, rumpelte, grummelte und jubelte ihr Grazer Kollege Klaus
Kastberger weiterhin auf hohem Niveau, sagte der Literaturkritiker des
Wiener Standard, Stefan Gmünder, wiederum kein Wort zu viel und vertrat
auch dieses Mal Michael Wiederstein vom Literarischen Monat aus der Schweiz
grundsätzlich und oft zu Recht eine konträre Meinung – nicht nur zur
Überraschung des Publikums im Sendesaal des ORF.
Einzig die Lyrikerin und Literatur-Performerin Nora Gomringer, ebenfalls
neu, wusste eher mit Sprüchen auf wechselnden T-Shirts zu überzeugen,
allerdings gaben ihre authentisch wirkenden Interpretationsverweigerungen
der angestrengten Diskussion eine angenehme Erdung.
Für jene Populisten, die nach Vereinheitlichung und Abwehr des Anderen
schreien, wären die drei Tage Literatur und Kritik in Klagenfurt eine
pädagogisch wertvolle Höchststrafe: Schickt sie an den Wörthersee zum
Bachmannwettlesen. Auf dass sie im Publikum sitzen und – auch das gehört
zum Regelwerk dieser Veranstaltung – stundenlang die Klappe halten müssen
und über das nachdenken können, was ihnen so verhasst ist: das Fremde.
8 Jul 2018
## AUTOREN
Carsten Otte
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