| # taz.de -- Bachmann-Preis 2016, 3. Tag: Jemensch mag sein Ei nicht | |
| > Swing und Hass: Einen Tag bevor der Bachmann-Preis verliehen wird, dreht | |
| > man in Klagenfurt noch mal auf. Es gibt einen harten Verriss – und eine | |
| > Favoritin. | |
| Bild: Liebling der Jury: Sharon Dodua Otoo in Klagenfurt | |
| „Was passiert eigentlich gerade draußen?“, fragen ein paar Leute – drau�… | |
| das meint die Welt. Abseits des ORF-Theaters, weg vom Lendhafen, vom | |
| Literaturgeplauder, die EM und die Eilmeldungen ziehen so vorbei und | |
| Uhrzeiten werden egal, „6 Stunden Schlaf? Ist doch Luxus“, Klagenfurt Tag | |
| und Nacht. | |
| Drinnen, das meint die Szene. Das Studio. Wo es leerer ist am dritten Tag | |
| des Bachmann-Wettbewerbs, noch rumgerutscht und nach Luft gefächert, aber | |
| nicht mehr um Plätze gekämpft wird. Und das, obwohl es heute beides zu | |
| sehen gibt: die heißeste Anwärterin auf den Preis – und den schmerzlichsten | |
| Verriss der vergangenen Tage. Die Jury ist direkt ganz anders aufgelegt, | |
| als sich die Autorin Sharon Dodua Otoo mit Lockerheit und Humor versucht, | |
| noch dazu ist sie Britin, und in Großbritannien hat man ja gut lachen. Ob | |
| deshalb gleich auf Englisch beurteilt werden muss, scheint sich niemand zu | |
| fragen; man ist einfach berauscht vom „Swing“, der ihre Zeilen trägt. So | |
| ein „cooler Text“! Dieser „Drive“. | |
| Er handelt, ja: von einem Ei. Natürlich nicht nur, wie bei Loriot sitzt ein | |
| Rentnerpaar am Frühstückstisch, spießig und karikiert bis zum Umfallen; die | |
| Kaffeeflecken auf der Tischdecke werden mit der Zuckerdose verdeckt, der | |
| Lebensinhalt scheint in der Kontrolle der Kühlschranktemperatur zu | |
| bestehen. Herr und Frau Gröttrup sitzen gerade erst, als ihre Routine | |
| unterbrochen wird: Herr Gröttrup stellt fest, dass sein Ei nicht hart ist, | |
| wie sonst; Dotter spritzt auf die Krawatte. | |
| Dann gibt es einen Schnitt, einen Perspektivwechsel – und dann erzählt das | |
| Ei. Crazy idea, kann man jetzt finden, findet immerhin die Jury, zumal | |
| Sharon Dodua Otoo etwas wie einen Geist erschaffen hat, der nicht nur als | |
| Ei gerechten Schaden anrichtet, sondern auch in einem roten Teppich zum | |
| Leben erweckt werden kann, etwa, wenn Helmut Kohl die vierte Bundestagswahl | |
| gewinnt, und wenigstens unterwegs zum Podium noch schnell zu Fall gebracht | |
| werden soll. | |
| „Großartiger Hass!“, wird das bewertet – ganz auf Deutsch. Wie das Paar | |
| sich schon morgens kaputt macht! | |
| Bestimmt, das könnte großartig sein. Dass die Stille in der Küche | |
| „messerscharf“ ist, es „angenehm“ nach frischgebackenem Brot duftet, He… | |
| Gröttrup „mit sichtlich großer Freude“ die Zeitung liest – und unter | |
| größtmöglicher Vermeidung des Wortes „Mann“ aus einem „jemand“ ein | |
| „jemensch“ wird – könnte aber auch gar nicht so lustig wie angenommen se… | |
| sondern schlichtweg Klamauk. Literarisch „fein gearbeitet“, wie hier so | |
| gern gesagt wird, wirkt es jedenfalls nicht. | |
| So oder so ist heute Tag der Haltung, die Jury auch beim Verreißen ganz | |
| einstimmig: „völlig missglückt“ nennt Meike Feßmann den vorletzten Text … | |
| diesjährigen Wettbewerbs, geschrieben von Astrid Sozio, aus Sicht einer | |
| alternden, weißen Frau, voller Ressentiments gegenüber den Flüchtlingen in | |
| ihrer Stadt; sie will das Mädchen aus Ghana nicht bei sich wohnen lassen, | |
| das plötzlich bei ihr auftaucht – obwohl sie Platz hätte, ein Hotel | |
| besitzt. Die Zimmer sind frei. | |
| „Zu eng“, „zu wenig“, „zu schematisch“, „trivialisiert“: in Kla… | |
| dreht man noch mal auf. „Das muss so kritisch gearbeitet sein, dass man | |
| sich nicht fragt: ist die Autorin naiv oder will sie provozieren?“ Und dann | |
| noch diese zärtliche Geste zwischen der alten Frau und dem Mädchen, ganz | |
| flüchtig halten sie sich an der Hand – muss das sein? | |
| „Kurzschlussliteratur“, sagt Sandra Kegel, nichts als eine Geste, die uns | |
| weismachen will, es könne doch noch alles anders werden. Als könnten wir | |
| doch noch zusammen finden, als würden wir uns doch noch verstehen. | |
| Als würde die Welt doch noch gut, sagt sie. Dann ist Mittagspause und die | |
| Welt wieder draußen. „Den Kaiserschmarrn mit Apfelsoß?“ Entschieden wird | |
| morgen. | |
| 2 Jul 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Annabelle Seubert | |
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