# taz.de -- Bachmann-Preis 2016, 2. Tag: Kein Brexit, kein Plan vom Orient | |
> Schwimmbad, Hotelzimmer, Orient: Am 2. Tag des Bachmann-Wettbewerbs gibt | |
> man sich experimentierfreudig. Aber was zieht, ist Tradition. | |
Bild: Ungewöhnlicher Jahrgang für eine Teilnehmerin beim Bachmann-Preis: Sylv… | |
In Klagenfurt wird ja nicht nur gelesen oder getrunken. Es wird auch | |
gebadet, ausgiebig und viel. „Warst du schon schwimmen?“ ist eine beliebte, | |
auch vor 8 Uhr ernst zu nehmende Frage; Stadtbäder gibt es mehrere, ein | |
Stück vor dem Zentrum schmiegt sich der Wörthersee ans Ufer wie | |
türkisfarbenes Meer, und das jährlich stattfindende Wettschwimmen unter | |
Autoren, Kritikern und Verlagsleuten ist fast so berüchtigt wie der | |
Bachmann-Preis selbst. | |
Passend also, dass im ersten Text des Tages ins Wasser gesprungen und sich | |
am Beckenrand festgehalten wird. Julia Wolf legt bei den 40. Literaturtagen | |
einen Auftritt hin, wie er – so die Jury – „auch vor 25 Jahren“ einer h… | |
sein können. So klassisch, so ruhig und präzise. So | |
schwarzes-T-Shirt-vor-weißem-Grund. Ihr Kapitel ist schön, ungewöhnlich | |
erzählt: Ein knapp Siebzigjähriger liegt schwer verletzt im Badezimmer und | |
hält sich damit am Leben, dass er seinen Tag im Schwimmbad Revue passieren | |
lässt, Gedankenkreise zieht; abschweift in die Vergangenheit mit einer | |
anderen Frau, zurückkehrt zu seiner Liebsten, Yvonne, wie eigens für ihn | |
„geschnitzt“. Yvonne, die wird ihn retten. | |
Es sind die Probleme eines alten, seine Bahnen ziehenden Mannes, die hier | |
verhandelt werden. Potenzprobleme, seit Jahren überholtes Machotum, er | |
kommt nicht mehr so hinterher mit der Zeit und seinem Körper; der Tod aber | |
– der kommt. Viel Wärme gibt Julia Wolf ihrem Protagonisten mit, in seiner | |
Rückschau auf Fehler und Freuden. Man mag ihn, man taucht mit ihm auf und | |
ab. | |
Nur taucht in ihrem Text auch leider eine Auslassung nach der anderen auf, | |
Ellipse reiht sich an Ellipse: „Das ist nicht von schlechten.“ „Da soll | |
noch mal einer.“ „Ich schließe die Augen, und.“ Klingt so | |
Favoritenpotenzial? Und warum hat zeitloses Geschriebenes in Klagenfurt | |
eigentlich so oft Favoritenpotenzial; steht man hier auf | |
Aktualitäts-Ellipsen? Irgendwann passiert es: Der Text sei „frei von | |
emerging topics“, stellt Juror Kastberger fest, versucht, das nicht zu | |
bewerten; „keine Flüchtlinge, kein Brexit, keine neue Medien“ kämen darin | |
vor, nix. Danke, endlich sagt’s einer. Klagenfurt gehört also doch zu | |
dieser Welt. | |
Im Anschluss dann kommen die Teilnehmer dran, mit denen man sich beim | |
diesjährigen Bachmann-Preis rühmt: Wir sind international! Experimentell! Ü | |
40! | |
Nämlich: Tomer Gardi, Israeli, mit einer Erzählung in very broken German. | |
Mutter und Sohn landen in Berlin-Schönefeld, anschließend in einem Hotel | |
mit falschen Koffern. Zunächst scheint alles auf eine feine Art schief, | |
Mutter und Sohn probieren die fremden Klamotten aus den fremden Koffern an, | |
die „kleine weisse BH“ passt nicht, und dass die Sprache nicht passt, ist | |
das Größte: „Ein Spiegel ist vor mir über dem Schreibtisch und noch eine | |
nach mir über das Bett und warum hat ein Spiegel auf Deutsch keinen | |
Plural?“ | |
Am Ende aber scheint alles auf eine grobe Art schief, plötzlich sind die | |
Themen groß: Opfer und Täter, Schuld und Vergebung, Dativ-Akkusativ, | |
Israel-Deutschland, Israel-Palästina, überhaupt – wer bin ich? Uff. | |
Dann: Zwei Texte, die mehr oder weniger vom Orient erzählen. Im einen wird | |
unter großer Zuhilfenahme von Ernsthaftigkeit geschildert, wie ein Mann | |
Kriegszustände in Afghanistan an Computern simulieren muss. Im anderen wird | |
unter häufiger Zuhilfenahme arabischer Begriffe versucht, einen Eindruck | |
von Echtheit und Expertentum herzustellen. Hukha, Maschallah, Hatem, | |
Adscham – die Jury stellt Referenzen zu Kafka und Karl May her, Hubert | |
Winkels findet ob der Bedrohungsszenarien und negativen Figuren, dies sei | |
„ein Text für Pegida oder die FPÖ“, Kastberger sagt: „Das ist der Karl … | |
des 21. Jahrhunderts! Keine Ahnung vom Orient, noch nie dort gewesen“ – | |
aber so tun als ob, inschallah. | |
Zuletzt: Sylvie Schenk, 1944 geboren, für die Liebe von Frankreich nach | |
Aachen gezogen, die ihr Nachkriegsleben zum Romanstoff macht. Mit einem | |
sanften Stil, einem „Du“, keinem „Ich“, vorgetragen wie ein Märchen. W… | |
gerechtfertigt die Vorwürfe sind, sie habe sich im Duktus eines | |
Geschichtsbuchs verirrt? „Als kleines Mädchen der fünfziger Jahre weißt du | |
von deiner Minderwertigkeit und möchtest lieber ein Junge sein“ könnte | |
ebenso gut der beste erste Satz sein, der in den vergangenen zwei Tagen | |
vorgelesen wurde. Und diese beiden Sätze: „Frauen geben seltener an. Was | |
sie leisten, ist für sie selbstverständlich“ – könnten unter Umständen | |
nicht nur für die Fünfziger gelten. | |
1 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Annabelle Seubert | |
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