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# taz.de -- Bachmannpreis – Tag 2: Im Schwindel
> Am zweiten Wettbewerbstag in Klagenfurt dominieren schwere Themen:
> Genozid, Trauer, Trennung. Diskutiert wird auch über Möwenkacke.
Bild: Nebensatzkonstrukteur sondergleichen: Daniel Heitzler
Klagenfurt taz | Wie sich die Dinge in Klagenfurt doch fügen. Da spricht
Clemens J. Setz am Mittwoch in einer [1][blitzgescheiten Eröffnungsrede]
davon, wie unsere Gegenwart von Fiktionen dominiert wird und welch fatale
Folgen es haben kann, nicht mehr zwischen Fiktion und Wirklichkeit
abstrahieren zu können, und dann sitzt am Freitagnachmittag beim
Bachmannpreis [2][Tom Kummer] auf dem Podium. Jener Autor, der die
[3][Fiktionalisierung des Realen zum journalistischen Prinzip] erhob, als
er Interviews fälschte. Ein Relotius eines anderen, früheren Zeitalters,
lange vor Fake-News-Wars.
Kummers eigene Biografie, die des unzuverlässigen Erzählers und des
Hochstaplers, sie kommt in seinem Wettbewerbsbeitrag [4][„Von schlechten
Eltern“] auch vor. „Ich lüge ihn an. Ich lüge sie alle an“, erklärt se…
Ich-Erzähler da einmal – ein Chauffeur, der durch die Nacht rauscht und der
den Tod seiner Frau verarbeiten will. Dem Fahrgast schwindelt er vor, dass
er sich zuhause den Avatar seiner toten Frau halte, „eine Schweizer
Hausangestellte, die ich übers Internet buche“. Wie schon in Kummers
jüngstem Roman [5][„Nina und Tom“] geht es also eigentlich um Trauerarbeit.
Das Kummer-Alter-Ego will cool bleiben, seinen Mann stehen. Tatsächlich ist
es ein etwas abgestandenes, gestriges Männerbild, das in der Figur des
Chauffeurs hier in kurzen, präzisen Sätzen durch die Schweizer Nacht gejagt
wird. Die Ich-Fiktion des Fahrers aber, sie geht nicht mehr auf. Man kann
Kummers Geschichte somit auch als Abgesang auf den Mann alter Schule lesen
– oder schwindelt er uns da etwas vor?
Um Schreiben und Wirklichkeit, um Sagbarkeit und Unsagbarkeit geht es auch
zuvor, in der Erzählung der Leipziger Autorin [6][Ronya Othmann]. Ihr Text
[7][„Vierundsiebzig“] handelt vom Genozid an den Jesiden durch den IS,
mutmaßlich erzählt anhand der eigenen Familiengeschichte. Sie berichtet
darin von Reisen in die Kriegsgebiete.
Othmann ringt in diesem Text um Worte für diesen Massenmord, wobei die
Autorin das Wort „Massenmord“ wohl sofort wieder zurücknehmen würde, denn
ihre Geschichte enthält so starke Passagen wie folgende: „Angesichts der
Gräueltaten und ich streiche das Wort Gräueltaten angesichts der Verbrechen
und ich streiche das Wort Verbrechen, weil sowohl das Wort Gräueltaten als
auch das Wort Verbrechen nicht tragen (…).“
Vom Genre her ist der Beitrag zwischen Ich-Reportage und Essay angesiedelt,
und als Versuch, für etwas eine Sprache zu finden, „wofür wir keine Worte
haben“, wie Othmann schreibt, überzeugt der Text. Wobei in der Jury die
Frage aufkommt, ob man über die persönliche, grausame Geschichte, die hier
geschildert wird, in literarischen Kategorien urteilen könne. Als habe man
nach dem Holocaust nicht ständig darüber gestritten, wie etwas erzählt
werden kann und darf oder nicht (heute streitet man lieber darüber, wer von
etwas erzählen darf und wer nicht).
Während Othmanns Beitrag einem länger in Erinnerung bleiben wird, legen
[8][Birgit Birnbacher] und [9][Daniel Heitzler] zwei Texte vor, die
technisch voll und ganz überzeugen, bei denen man aber nicht weiß, ob das
Erzählte stark genug ist, um von Dauer zu sein. Die Salzburger Autorin
Birnbacher erzählt in [10][„Der Schrank“] einmal mehr von sehr engen
österreichischen (Wohn-)Verhältnissen, von Arbeitsbiografien und
Lebensläufen, die immerfort genügen müssen, die in ständiger Beobachtung
der Außenwelt stehen (ein „Beobachter“ spielt eine entscheidende Rolle in
dem Text). Die Außenwelt beginnt im eigenen Haus, im Treppenhaus lauert das
Böse. Durch und durch österreichisch, diese Erzählung.
Ganz woanders hin, nach Mexiko, führt einen der Berliner Autor Daniel
Heitzler, Jahrgang 1996 und damit der jüngste Autor des Wettbewerbs. Sein
Text [11][„Der Fluch“] ist wie die Parodie eines mexikanischen Western
angelegt; virtuos, aber auch sehr langsam erzählt. Vor seiner Lesung wusste
man von ihm, dass er literarischer Newcomer ist, als Barkeeper arbeitet,
Tennis spielt und Joy Division mag. Nach der Lesung weiß man: Er kann auch
sehr lange Sätze mit scheinbar endlosen Nebensatzkonstruktionen
grammatikalisch korrekt formulieren.
Eröffnet hatte den Tag der Kölner Autor [12][Yannic Han Biao Federer],
dessen Trennungsgeschichte aber nicht wirklich überzeugte – seine Erzählung
[13][„Kenn ich nicht“] wirkt wie ein arg konstruiertes Spiel mit
Erzählebenen, die Sprachbilder scheinen zu vorhersehbar. Wobei die Jury am
längsten über den letzten Satz des Textes sprach. Er lautet: „Am Hafen
scheißt mir eine Möwe in die rechte Sandale, es stinkt und klebt.“
Es gab aber bei weiterem Bewegenderes an diesem zweiten Wettbewerbstag als
das bisschen Möwenkacke.
28 Jun 2019
## LINKS
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[2] https://bachmannpreis.orf.at/stories/2978631/
[3] /!5199749/
[4] https://bachmannpreis.orf.at/stories/2978869/
[5] https://www.aufbau-verlag.de/index.php/nina-tom.html
[6] https://bachmannpreis.orf.at/stories/2978634/
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## AUTOREN
Jens Uthoff
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