| # taz.de -- Autor Robert Menasse erfand Zitate: Wäre er nur bei Romanen geblie… | |
| > Der preisgekrönte Schriftsteller Robert Menasse hat Zitate des | |
| > CDU-Politiker Walter Hallstein in Essays und Reden erfunden. Historiker | |
| > sind empört. | |
| Bild: Mit literarischer Chuzpe von der EU-Bürokratie schwärmen: Autor Robert … | |
| BERLIN taz | Schriftsteller erfinden. Figuren, Plots, Stimmungen, | |
| Landschaften, eine schöne oder hässliche, eine gebrochene oder flirrende, | |
| eine wie auch immer eigenwillige Sprache. Das nennt man Literatur. Manche | |
| Schriftsteller reden auch gerne über ihre Literatur. Weil sie gebeten | |
| werden, die Bilder, Metaphern, die Bezüge, die kurzen oder langen Sätze zu | |
| erklären. Kontexte herzustellen, mit biografischen Anekdoten einzuordnen, | |
| was in der Literatur vielleicht noch Leerstelle war. Das ist das Geschäft | |
| des Feuilletons. Manchmal ist das erhellend. Manchmal ernüchternd. Weil die | |
| Literatur doch eigentlich für sich stehen könnte und keine Erklärung nötig | |
| gehabt hätte. Manchmal erwächst aus der Literatur auch ein irgendwie | |
| theoretisches, ein quasipolitisches Projekt. Dann müssen Schriftsteller | |
| noch mehr reden. Obwohl ihr Kerngeschäft doch darin besteht, Literatur zu | |
| schreiben. | |
| [1][Robert Menasse] ist ein gewitzter, ein kluger und enthusiastischer | |
| Schriftsteller. Wer ihn mal im Interview erlebt hat, lässt sich von seinen | |
| Exkursen mitreißen. Hegel, Marx, Adorno tauchen in wenigen Minuten auf. Und | |
| zwischendurch auch Hallstein. Wer mit Menasse spricht, redet nicht nur über | |
| Literatur. Da geht es schnell um Europa und warum die Beamten in der EU | |
| einen tollen Job machen, der nicht angemessen gewürdigt werde. Das war und | |
| ist eine These, die sich auszubreiten lohnt. Selbst wenn im Gespräch | |
| falsche beziehungsweise halbrichtige Zitate verwendet und die im | |
| journalistischen Alltag nicht immer überprüft werden können. | |
| Was Robert Menasse geritten hat, dem ersten Vorsitzenden der Kommission der | |
| Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft [2][Worte in den Mund zu legen], die | |
| er nie gesagt hat, was den Schriftsteller gar dazu bewogen hat, den | |
| Hochschullehrer und CDU-Politiker Walter Hallstein in Auschwitz auftreten | |
| zu lassen, und zwar in nichtliterarischen Formaten, empört die historische | |
| und politische Zunft. Das ist verständlich. Doch damit wird man den | |
| literarischen Quälgeist nicht los. Denn selbstverständlich wird Menasse | |
| weiterhin Fiktion und Realität verschwimmen lassen, nicht nur im Roman | |
| ([3][was Literaturkritiker in „Die Hauptstadt“ besonders gelobt haben]), | |
| sondern auch in allem anderen, was er sagt und schreibt. Deshalb wird er | |
| auch keine Preise zurückgeben müssen. Deshalb ist er auch kein Lügner wie | |
| [4][Claas Relotius], der Journalismus vorgab und nicht mal gute Fiktion | |
| zustande brachte. | |
| Robert Menasse hat als Schriftsteller ein literarisches Lebensthema | |
| gefunden, von dem sich das Publikum begeistern ließ, ohne darauf zu achten, | |
| dass der Schriftsteller am Rednerpult weiterhin ein Künstler des Fiktiven | |
| ist. In seinen Arbeiten wird es auch künftig realfiktionale und | |
| fakefiktionale Elemente geben. So wie das auch in literarischen Werken (und | |
| Reden) anderer Schriftsteller der Fall ist. Dass wir als Publikum künftig | |
| etwas skeptischer gegenüber dem rhetorischen Wirbel der Literaten sind, | |
| muss kein Nachteil sein. Wenn Menasse allerdings gebetsmühlenhaft daran | |
| erinnert, dass der anstrengende Prozess der europäischen Einigung auch als | |
| moralische Antwort auf die Menschheitsverbrechen im Nationalsozialismus | |
| gedacht war und ist, dass heutzutage daran erinnert werden muss, wohin | |
| Nationalismus und Hass auf Europa führen können, unterscheidet ihn das | |
| nicht wesentlich vom Europäer Helmut Kohl. | |
| ## Wahnwitzige Übertreibung | |
| Menasses Texte leben zu einem gewissen Teil von wahnwitziger Übertreibung | |
| und Polemik. Im Grunde hat der Autor diese Stilmittel auch in seinen Reden | |
| eingesetzt. Aus dem Was-wäre-wenn-Spiel wurde allerdings eine zunehmend | |
| verbissene und sich verselbstständigende So-isses-Lehrstunde. Menasse hat | |
| aus seinen spielerischen Gedanken, deren Mütter und Väter durchaus | |
| wohlmeinende Wünsche waren, moralische Vorwürfe formuliert und damit | |
| tatsächlich eine Grenze des literarischen Graubereichs überschritten: Man | |
| kann der Öffentlichkeit keine Geschichtsvergessenheit mit historischen | |
| Details vorwerfen, die nicht stimmen. Das ist bitter, weil damit das | |
| ursprüngliche Anliegen beschädigt wird. Denn wir brauchen den Enthusiasten | |
| Menasse, der mit wilder literarischer Chuzpe von der EU-Bürokratie | |
| schwärmt. Wir brauchen den Erfinder und Übertreibungskünstler, der uns | |
| durch sein im Roman so berechtigtes wie auch kluges Fakt-Fiktion-Spiel | |
| herausfordert wie nur wenige Literaten. | |
| In Menasses Roman „Die Hauptstadt“ ist Professor Erhart, der gerade seine | |
| Frau verloren hat, auf der Suche nach dem Mausoleum der Ewigen Liebe. Der | |
| Mann der Wissenschaft meint allerdings, das Gebäude heiße Mausoleum der | |
| bedingungslosen Liebe, und er ist auch zunächst auf dem falschen Friedhof | |
| unterwegs. Aber spielen die Ungenauigkeiten eine Rolle? Und wenn für wen? | |
| Erhart findet schließlich, was er sucht. Und Menasse erzählt eine bewegende | |
| Story dazu: Ein reicher Bürger hatte nämlich im Brüsseler Stadtviertel | |
| Laeken für seine im Kindsbett verstorbene Frau jenes außergewöhnliche | |
| Mausoleum errichten lassen. Im Dach des Gebäudes ist ein Stück ausgespart, | |
| und durch diese Öffnung kann die Sonne am Todestag der geliebten Frau einen | |
| herzförmigen Spot auf den Sarkophag werfen. Kitsch? Ach, was. Menasse | |
| erinnert daran, dass dieses Grabmal heute verfallen ist und damit wiederum | |
| zum Mahnmal für Europa wird. Denn wenn es nicht mal die Kulturabteilung der | |
| EU-Kommission schafft, dieses berührende Bauwerk auf die touristische | |
| Landkarte Brüssels zu schaffen, wie sollen dann die Errungenschaften der | |
| Europäischen Union, die oft nur durch mühsame Reflexion nachvollziehbar | |
| werden, im positiveren Licht erscheinen? | |
| Kaum hatte ich die Passagen gelesen, schaute ich im Internet nach: Gibt es | |
| dieses Mausoleum wirklich? Als ich tatsächlich Bilder fand, war mir die | |
| Suche auch schon wieder peinlich. Was hätte es für einen Unterschied | |
| gemacht, wenn Menasse die Geschichte des Grabmals erfunden, verändert oder | |
| sonst irgendwie literarisch überhöht hätte? Selbst für die politische | |
| Botschaft im literarischen Kontext wäre es unerheblich gewesen. Wer Menasse | |
| liest, wird feststellen, dass viel von dem, was derzeit moniert wird, schon | |
| im Roman thematisiert ist. Vielleicht bitten wir den Autor, die eine oder | |
| andere Rede, diese und jene Preisverleihung nebst ausführlicher Dankesworte | |
| und auch noch den nächsten Vortrag an der Uni sausen zu lassen und | |
| stattdessen wieder einen guten Roman zu schreiben. | |
| 3 Jan 2019 | |
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| Carsten Otte | |
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