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# taz.de -- Neuer EU-Roman von Robert Menasse: Jagd nach dem goldenen Helm
> Robert Menasse bleibt sich thematisch treu. Mit „Die Erweiterung“
> schreibt er in cineastischer Prosa einen Roman über Politik der
> Europäischen Union.
Bild: Ein Helm, über sie alle zu herrschen: der Skanderbeg-Helm in Wien
Im Wiener Kunsthistorischen Museum gehen die meisten Leute achtlos an dem
goldenen Helm vorbei, dabei sieht das mit allerlei Metallverzierungen
beschlagene Ding ziemlich skurril aus. Auf dem Scheitel ist ein Ziegenkopf
aus vergoldeter Bronze montiert, was den Helm wie eine Requisite aus
[1][„Game of Thrones“] aussehen lässt. Die gehörnte Kopfbedeckung wird ab…
dem albanischen Volkshelden Skanderbeg zugeschrieben, auch wenn jener
Fürst, der im 15. Jahrhundert gegen die Osmanen kämpfte, den Helm
vermutlich weder getragen noch besessen hat.
Die Hörner auf dem Helm, die dem zeitgenössischen Betrachter merkwürdig
vorkommen können, interpretieren Zeithistoriker als Symbol für die
göttliche Macht des angeblichen Besitzers. Der Nachruhm des Feldherrn
immerhin hat nachweislich einige Spuren hinterlassen, etwa in der
Vivaldi-Oper „Skanderbeg“. In London steht eine prunkvolle Büste des
adligen Kriegers, und in Tirana ist ihm mit einem großen Reiterdenkmal der
Hauptplatz der Stadt gewidmet.
Eher unbekannt ist, dass sich eine besonders blutrünstige SS-Division nach
Skanderbeg benannt hat. Auch dieses dunkle Kapitel der albanischen
Heldenverehrung wird in Robert Menasses Roman „Die Erweiterung“ erwähnt,
zeigt es doch, dass die europäische Geschichte immer schon widersprüchlich
war.
Wie schon in seinem vorangegangenen [2][Roman „Die Hauptstadt“ wirbelt
Menasse] auch im neuen Werk mit historischen und fiktiven Anekdoten herum,
sodass es naheliegt, die eine oder andere Skurrilität durch eine
Kurzrecherche im Internet zu überprüfen. Aber schon bald hat der Text ein
solches Eigenleben entwickelt, dass die Historie seltsam fiktiv und das
Erfundene als Realität erscheint.
## Debatten ums vorangegangene Buch
Dieses Verfahren lässt sich auch als literarische Antwort auf die
[3][Debatten rund ums vorangegangene Buch lesen. Der Historiker Heinrich
August Winkler hatte Menasse vorgeworfen, dass der Autor nicht nur in
seinem „Hauptstadt“-Roman, sondern auch in politischen Schriften fiktive
Zitate von Walter Hallstein], dem ersten Präsidenten der Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft, verwendet habe.
Nach heftigen Diskussionen im Feuilleton entschuldigte sich Menasse für
seine Vermischung von historischen Fakten und literarischen
Ausformulierungen auch in Reden und Essays – die eben nicht das Privileg
der Fiktion in Anspruch nehmen können.
Menasses neuer Roman wird vermutlich wieder für Diskussionen sorgen, aber
aus anderen Gründen, geht es in „Die Erweiterung“ doch um den aktuellen
Beitrittswunsch Albaniens in die Europäische Union. Der amtierende (aber
gleichwohl fiktive!) Premier des beitrittswilligen Landes sucht jedenfalls
nach einer Möglichkeit, sowohl die eigene Wählerschaft als auch jene Länder
zu beeindrucken, die der Aufnahme Albaniens in die EU eher skeptisch
gegenüberstehen. Und was macht der geschichtsvergessene Populist? Er
fordert die Herausgabe des in Österreich liegenden Nationalheiligtums!
## Windige Figur mit nationalistischen Visionen
Diesen Coup hat sich Fate Vasa ausgedacht, der einst als Dichter reüssierte
und nun auf politischem Terrain poetisiert – sprich: er fungiert als
Berater im albanischen Kabinett, eine windige Figur mit nationalistischen
Visionen: „Wer sich den Helm Skanderbegs aufsetzt, was einer
osteuropäisch-postmodernen Variante der Selbstkrönung Napoleons gleichkäme,
würde dadurch zum Führer aller Albaner, der Herrscher über die größte
Volksgruppe des Balkans, der ethnischen Albaner im Kosovo, in
Nordmazedonien, in Montenegro und Serbien, aber auch der nicht zu
unterschätzenden Zahl der Albaner in Griechenland, und der großen
albanischen Gemeinden in Süditalien, Deutschland und der Türkei.“
Dass der Helm in Wien allerdings eher als „Exempel für historische
Legendenbildung und nicht als koloniale Beute“ ausgestellt ist,
interessiert in Tirana weder den Regierungschef noch den Oppositionsführer,
der ebenfalls überlegt, wie er an das gehörnte Ding herankommt. So beginnt
eine aberwitzige „Jagd nach dem goldenen Helm“.
Das Objekt der großalbanischen Begierde wird tatsächlich unter dubiosen
Umständen gestohlen. Die Polizei in Wien ist vollkommen ratlos, anders als
der albanische Ministerpräsident, der weiterhin von seiner Quasikrönung
träumt und einem versierten Schmied den Auftrag gibt, passend zum eigenen
Dickschädel eine leicht vergrößerte Kopie des Helms anzufertigen.
Dass auch die originalgetreue Fälschung bald verschwindet, ist der Mafia zu
verdanken, hindert die Regierungsclique in Tirana wiederum nicht daran, den
Skanderbeg-Plan weiter zu verfolgen. Das groteske Hin und Her mit den
Helmen, das Spiel mit den gefälschten Projektionsflächen, die zur
Realpolitik werden, ist eine bitterkomische und äußerst treffende Allegorie
auf den Nationalismus in Europa.
## Vielzahl von Personen
Die Handlung des Romans ist allerdings nicht einseitig angelegt, denn
Menasse erzählt von den komplizierten Erweiterungsplänen der EU auch aus
der Innensicht der Bürokratie, und zwar über eine Vielzahl von Personen und
Paarkonstellationen. Dass der Autor nicht nur an der satirischen
Eskalationsschraube zu drehen, sondern seine Romankonstruktion durchaus
emotional zu erden weiß, zeigt sich an den polnischen Jugendfreunden Adam
und Mateusz. Im Untergrundkampf der Solidarność waren die beiden noch
vereint, haben sich Blutsbrüderschaft geschworen. Doch mit dem Ende des
Warschauer Pakts gehen sie getrennte Wege.
Adam macht, kaum ist Polen der EU beigetreten, Karriere in der Europäischen
Kommission. Er treibt die Erweiterungspläne der Gemeinschaft voran, während
Mateusz zum polnischen Ministerpräsidenten aufsteigt und nicht nur die
Aufnahme Albaniens torpediert, sondern auch die Freiheitsrechte im eigenen
Land einschränkt.
Es gehört zu den im Roman gut herausgearbeiteten Gegensätzen aktueller
EU-Politik, dass die vielbeschworenen europäischen Werte in jenen Staaten,
die der EU beitreten wollen, deutlich engagierter umgesetzt werden als in
einigen Mitgliedsländern, die lediglich um ihre finanziellen Pfründen
fürchten und sich zu autoritären Systemen zurückentwickeln.
Jenseits der politischen Erzählebene überzeugt Menasses Roman mit einer
Vielzahl von transnationalen Liebesgeschichten, als würde Europa ohnehin
nur noch durch emotionale Verbindungslinien zusammengehalten werden: Der
österreichische EU-Beamte Karl verguckt sich in die albanische
Justizangestellte Baia, der Wiener Polizist Franz flirtet mit seiner
Putzfrau Bessa, die aus Nord-Mazedonien kommt. Ismail, der melancholische
Pressesprecher des albanischen Ministerpräsidenten, geht mit der nonbinären
Radiojournalistin Ylbere auf Wanderschaft im Grenzgebiet zum Kosovo.
Nicht alle Sehnsüchte erfüllen sich, einige der Liebenden stürzen auf
schlimme Weise ab. Die Gefühle der manchmal auch innerlich verstellten
Figuren wirken durchweg nachvollziehbar, weil der allwissende Erzähler nie
auf seine Charaktere herabschaut, sondern die vertrackten Stimmungslagen in
eindrücklichen Szenen auflöst – etwa wenn Ismail und Ylbere eine kühle
Nacht nach der anderen gemeinsam verbringen und sich bei aller Nähe doch so
fern bleiben.
Das Schlusskapitel dieses Romans, der trotz der beachtlichen Länge von 650
Seiten ein kurzweiliges Lesevergnügen bietet, ist ein Totentanz auf hoher
See. Die albanische Regierung hat die europäische Politprominenz zu einer
Reise auf ein Kreuzfahrtschiff eingeladen, das gerade mit dem
missverständlichen Namen „SS Skanderbeg“ vom Stapel gelassen wurde. Die
echtfalschen Helme des Heerführers sind auch an Bord, Passagiere berichten
sogar von einer lebendigen Ziege.
## Medizinische Notfälle und ein um sich greifendes Virus
Doch die Seereise, die zu einer neuen Einheit führen soll, entwickelt sich
zu einem Desaster. Plötzlich werden medizinische Notfälle gemeldet, ein
Virus greift um sich, die Menschen sterben, die Kühlräume sind schon bald
überfüllt. Das Schiff mit den moribunden Staatschefs darf nirgendwo mehr
anlanden und irrt zeitweilig kapitänslos übers Meer.
Dass die Rumpfbesatzung sich entschließt, in dieser Situation Flüchtlinge
in Seenot aufzunehmen, erinnert zwar noch an die besagten europäischen
Werte, könnte aber angesichts des gefährlichen Erregers auf dem Schiff auch
das endgültige Todesurteil für die Geretteten sein.
Ein düsteres Ende für ein ansonsten absurd-amüsantes Buch, mit dem Robert
Menasse seinem literarischen und politischen Projekt treu geblieben ist,
Geschichte und Geschichten über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
Europas zu erzählen.
Der schnelle Wechsel der Schauplätze, die rasanten und gerade in der
Übertreibung so realistischen Szenen, der spannende Plot, die historische
Dimension der gegenwärtigen Machtgier, ein verrücktes Ziergenhelm-Symbol
und nicht zuletzt die zahlreichen im besten Sinne einprägsamen Charaktere
zeigen eine nahezu cineastische Qualität dieser Prosa. Fördergremien
Europas, hört die Signale! „Die Erweiterung“ muss verfilmt werden.
23 Oct 2022
## LINKS
[1] /Serienfinale-von-Game-of-Thrones/!5596465
[2] /Deutscher-Buchpreis-fuer-Die-Hauptstadt/!5452033
[3] /Autor-Robert-Menasse-erfand-Zitate/!5560165
## AUTOREN
Carsten Otte
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