# taz.de -- „Die Hauptstadt“ von Robert Menasse: Mehr als Gurkenkrümmungsg… | |
> Der für den Buchpreis nominierte Roman „Die Hauptstadt“ erinnert an den | |
> historischen Auftrag der EU. Das ist wider Erwarten spannend. | |
Bild: Sympathisch geht anders: In Form ihrer Gebäude wirkt die EU anonym, fad … | |
Robert Menasse ist der große Dialektiker der deutschsprachigen Literatur. | |
So hat der 1954 in Wien geborene Autor zum Beispiel die „Trilogie der | |
Entgeisterung“ geschrieben, in der Menasse unter anderem Hegels | |
Geschichtsdialektik auf den Kopf stellt. Neben der Philosophie spielt auch | |
die Politik eine wichtige Rolle in seinem Werk, und so ist es kein Wunder, | |
dass er sich in letzter Zeit intensiv mit der Zukunft Europas beschäftigt | |
hat. | |
Vor einigen Jahren ist er nach Brüssel gefahren, um dort für einen Roman zu | |
recherchieren, der hinter die Kulissen der EU-Bürokratie schaut. Menasse | |
stellte fest, dass vor der Fiktion zunächst einmal die Realität behandelt | |
werden muss. Er veröffentlichte zunächst einmal den Essay „Der europäische | |
Landbote“. Darin wird die EU weitaus differenzierter und freundlicher | |
beschrieben als in den zahlreichen Abgesängen, die nicht nur von | |
nationalistischen Populisten vorgetragen werden, sondern auch von Autoren | |
wie Hans Magnus Enzensberger. | |
Nach der Arbeit am Sachhaltigen kehrte Robert Menasse wieder in die | |
Romanwerkstatt zurück und hat nun einen Roman veröffentlicht, der im Milieu | |
der europaweit so verhassten EU-Beamten spielt. Ein Coup – denn bislang hat | |
noch kein Schriftsteller von Rang versucht, herauszufinden, ob die | |
europäische Bürokratie literaturfähig ist. | |
Am Anfang von „Die Hauptstadt“ läuft ein Schwein durch Brüssel. Eine | |
lustige, eine hochsymbolische und damit auch eine politische Szene, denn | |
sie erzählt sehr viel von jenem Ort, der zur negativen Projektionsfläche in | |
ganz Europa geworden ist: Die Hauptstadt der EU, Hort der europäischen | |
Bürokratie, die sich anmaßt, über das Leben in so vielen Ländern zu | |
bestimmen. Man denke an normierte Gurkenkrümmung und klassifiziertes | |
Schweinefleisch. | |
## Nicht nur Drecksau, auch Glücksschwein | |
Aber das sind vor allem Ressentiment-Schablonen, und das zeigt Menasse auch | |
schon zu Beginn des Textes. Für ihn gibt es nicht nur die Drecksau, sondern | |
immer auch das Glücksschwein, und so steht dieses domestizierte Tier, das | |
in den Straßen der Hauptstadt auch seine Wildheit auslebt, nicht nur für | |
den Gegenstand des Romans, sondern auch für Menasses | |
literarisch-philosophisches Gesamtprojekt – das historisch versiert, | |
dialektisch angelegt und immer wirklichkeitsgesättigt ist. | |
Denn Menasse hat auf seiner Recherchetour in Brüssel festgestellt, wie gut | |
die Europäische Union dann doch funktioniert; er hat sehr schnell | |
begriffen, dass manche Vorurteile durchaus zutreffen, viele andere | |
allerdings nicht. Dass viele EU-Beamte durchaus kleine Helden sind, nicht | |
nur Lobbyisten und ordnungsfanatische Gesetzesentwickler. Der | |
Schriftsteller realisierte zudem, dass er seine Geschichte nicht aus einer | |
einzigen Perspektive schreiben kann, dass es mehrere Stimmen geben muss in | |
einem Roman, der von der europäischen Vielfalt handelt. | |
So hat sich auch die Struktur des Textes in gewisser Weise aus dem Geist | |
der europäischen Hauptstadt entwickelt: Es gibt vielfältige Figuren und | |
Erzählstränge. Wir Leser werden mit einem bunten Szenenkonfetti beworfen | |
und wissen zunächst nicht genau, wie sich aus diesen Schnipseln ein | |
Erzählmosaik bilden soll. Schließlich fügen sich die Stränge doch so | |
beeindruckend zusammen, dass man an die EU-Bürokratie erinnert wird, die | |
besser zu funktionieren scheint, als die eigenen Vorurteile es | |
nahelegen. | |
Da gibt es die ehrgeizige, aber in ihrem Pragmatismus keinesfalls | |
unsympathische Griechin Fenia Xenopoulou, zuständig für die | |
Generaldirektion Kultur in der EU-Kommission, die ihren österreichischen | |
Referenten Martin Susman beauftragt, eine Kampagne zur Imageverbesserung | |
der EU zu entwickeln. | |
## Auschwitz als moralische Hauptstadt der EU | |
Der eifrige Referent Susman, der froh ist, dem elterlichen Bauernhof | |
entkommen zu sein und der es kaum aushält, mit seinem Bruder über | |
Schweinezucht, grassierenden Vegetarismus und den EU-Handel mit | |
Schweineohren zu streiten, begreift die EU nicht nur als Wirtschaftsraum, | |
sondern als moralische Instanz. Und so liegt es auf der Hand, dass er mit | |
seiner Imagekampagne an die schlimmsten Auswüchse des Nationalismus | |
erinnern will und an den Schwur, Auschwitz dürfe nie wieder stattfinden. | |
Nein, denkt sich der Mann aus Österreich, diese EU ist kein Schweinesystem, | |
sondern ein Glücksfall der Geschichte. | |
Auschwitz – so lautet die provokante These des Romans – ist die moralische | |
Hauptstadt der Europäischen Union; nur auf dem Fundament der Schande konnte | |
das Friedensprojekt durchgesetzt werden. Deshalb soll, wenn es nach Susman | |
geht, zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge ein großer Festakt | |
stattfinden, und zwar nicht in trauter Politikerrunde, sondern in Auschwitz | |
und mit Überlebenden des Holocausts. Dass Robert Menasse selbst einen | |
solchen Festvortrag zwar nicht in Auschwitz, aber in Brüssel gehalten hat, | |
zeigt sehr schön, wie ironisch er eigenes Erleben zu literarisieren | |
versteht. | |
Dass Susmans EU-Fest-Projekt in den Instanzen schließlich doch zerrieben | |
wird, ist durchaus als Kritik zu verstehen am europäischen System der | |
nationalen Macht und Eitelkeit, dennoch bleibt die Hoffnung, dass im | |
Zentrum der Bürokratie Menschen arbeiten, die den Glauben an die | |
historische Mission nicht verloren haben. | |
Erstaunlich ist bei all dem theoretischen sowie politischen Über- und | |
Unterbau des Romans, dass die Materialfülle den Text nicht öde macht, die | |
Dialoge humorvoll sind und der Fortgang der Handlung auf sehr anschauliche | |
Weise erzählt wird. Das liegt auch daran, dass die Wege, die die | |
vermeintlichen Nebenfiguren in diesem weitverzweigten Text beschreiten, | |
jene Sinnlichkeit haben, die anderen Erzählsträngen zuweilen abgeht: Ob das | |
nun David de Vriend ist, dessen Eltern deportiert wurden, der als einer | |
der wenigen vom Todeszug springen konnte und der nun in einem Altenheim vor | |
sich hin dämmert, aber seinen Traum nicht vergessen kann, ob das ein | |
bizarrer Auftragskiller ist, der von geheimen Mächten verfolgt und wiederum | |
beschützt wird, oder ob es sich um Alois Erhart handelt, einen emeritierten | |
Professor für Volkswirtschaft, der einen zauberhaften Ort aufsucht, der | |
ausgedacht erscheint, den es aber tatsächlich gibt, nämlich das „Mausoleum | |
der bedingungslosen Liebe“. | |
## Ein Textmosaik mit Konfetticharakter | |
Ein reicher Bürger hatte nämlich im Brüsseler Stadtviertel Laeken für seine | |
im Kindsbett verstorbene Frau ein außergewöhnliches Mausoleum errichten | |
lassen. Im Dach des Gebäudes ist ein Stück ausgespart, und durch diese | |
Öffnung kann die Sonne am Todestag der geliebten Frau einen herzförmigen | |
Fleck auf den Sarkophag werfen. | |
Menasse erinnert daran, dass dieses Grabmal heute verfallen ist und damit | |
wiederum zum Mahnmal für Europa wird. Denn wenn es nicht mal die | |
Kulturabteilung der EU-Kommission schafft, dieses unmittelbar berührende | |
Bauwerk auf die touristische Landkarte zu bringen, wie sollen dann die so | |
leicht in Vergessenheit geratenen, weil nur durch historische Reflexion | |
nachvollziehbaren Errungenschaften der Europäischen Union im positiveren | |
Licht erscheinen? | |
Menasse bietet uns mit seinem Roman „Die Hauptstadt“ ein Lesevergnügen, das | |
auch ein Stück Arbeit ist: Wir müssen uns auf sein Textmosaik einlassen, | |
wenn wir das Gesamtbild erkennen wollen. Selbst wenn uns der durchaus | |
notwendige Konfetticharakter des mit vielen Thesen und Antithesen | |
gespickten Romans anstrengen sollte, werden wir aber mit der Erkenntnis | |
belohnt, dass die europäische Bürokratie nicht nur literaturfähig, sondern | |
bei aller Kritik auch ein lebendiges System ist, das sich um die Menschen | |
und um seinen historischen Auftrag kümmert. | |
18 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Carsten Otte | |
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