| # taz.de -- Shortlist Deutscher Buchpreis: Bärte, Bäume, Beziehungen | |
| > Marion Poschmanns „Die Kieferninseln“ nennt sich Roman, ist aber eher | |
| > Lyrik. Ein Mann hat darin Angst und flüchtet nach Tokio. | |
| Bild: Die Schriftstellerin und Lyrikerin Marion Poschmann ist Mitglied des PEN-… | |
| Was haben Bärte mit Bäumen gemeinsam? Besteht eine geheime poetische | |
| Verbindung zwischen dem Haarwuchs am männlichen Kinn und dessen Form und | |
| Pflege sowie dem Wesen und Gedeihen der japanischen Schwarzkiefer? Das ist | |
| eine große Frage, deren Beantwortung letztlich offen geblieben ist, wenn | |
| man Marion Poschmanns „Kieferninseln“ nach vollendeter Lektüre zugeklappt | |
| hat. Und eigentlich ist das gut so, denn es gibt halt Dinge zwischen Himmel | |
| und Erde, nach denen der menschliche Verstand auf immer vergeblich greifen | |
| wird. | |
| Der Protagonist in Poschmanns „Roman“ genanntem Buch, bei dem es sich aber | |
| eher um eine Art lyrischer Prosaballade handelt, ist insofern als Mensch | |
| geradezu prototypisch. Denn einerseits verfügt Gilbert Silvester über jede | |
| Menge Verstand im Sinne von intellektueller Kapazität, andererseits gibt es | |
| wenig Hinweise darauf, dass er diesen Verstand tatsächlich immer | |
| sinnorientiert einzusetzen imstande ist oder auch nur eine dauerhaft | |
| verlässliche Beziehung zur Realität aufrechterhalten kann. | |
| Als Wissenschaftler von einer Honorarstelle zur nächsten hangelnd, hat | |
| Gilbert sich auf das Gebiet der Bartforschung zurückgezogen oder | |
| zurückdrängen lassen. Das Orchideenthema ist nicht dazu angetan, seine | |
| Karriere zu befördern, und auch von seiner Frau Mathilda, die eine | |
| herausgehobene Stellung in der Lehrerausbildung bekleidet, fühlt er sich | |
| inhaltlich nicht vollkommen unterstützt. | |
| So ist es wohl auf dieses untergründig schwelende | |
| Sich-nicht-verstanden-Fühlen zurückzuführen, wenn Gilbert, als er eines | |
| Nachts geträumt hat, dass Mathilda ihn betrügt, diesen Traum für bare Münze | |
| nimmt. Zutiefst verletzt besteigt er das nächste Flugzeug, das ihn | |
| möglichst weit von der Untreuen fortbringt. Er landet in Tokio. | |
| ## Eine Reise zum Wald der Selbstmörder | |
| In Japan wird Gilberts Weg von zwei widerstreitenden Kräften bestimmt. Die | |
| eine besteht in einem Buch des Nationaldichters Basho, in dem jener eine | |
| ausgedehnte Reise zu einer sagenumwobenen Landschaft beschreibt, die als | |
| „Kieferninseln“ Teil des nationalen Kulturschatzes ist. Gilbert beschließt, | |
| Bashos Wege nachzuvollziehen und seinerseits die Kieferninseln aufzusuchen. | |
| Doch sein Weg dorthin wird aufgehalten von einer Gegenkraft. Ein junger | |
| Japaner mit dem unwahrscheinlichen Namen Yosa Tamagotchi kreuzt seinen Weg. | |
| Gilbert nimmt sich des offensichtlich lebensmüden Jünglings an, der, | |
| ähnlich wie Gilbert seinen Basho, zur Reiseplanung ein Buch mit sich führt. | |
| In seinem Fall allerdings ist es ein Selbstmörderhandbuch, und noch bevor | |
| Gilbert sehen kann, was Basho sah, absolviert er zusammen mit Yosa ein | |
| Sightseeing der anderen Art. | |
| Zuerst muss er den jungen Mann davon abhalten, sich von einem ob seiner | |
| architektonischen Tristesse berühmten Tokioter Hochhaus zu stürzen. Es | |
| folgt eine Reise zum Wald der Selbstmörder, in dem die ungleichen Reisenden | |
| von der Dunkelheit überrascht werden und notgedrungen eine Nacht | |
| verbringen. | |
| Wenn Gilbert dann irgendwann auf einem Bahnhof, nun wirklich schon auf den | |
| Spuren des Großdichters, Yosa aus seinem Schlepptau verliert und auch nicht | |
| wiederfindet, lichtet sich der Nebel der Unwirklichkeit allmählich. Die | |
| lebensmüde Gegenkraft, die ihn bisher davon abhalten wollte, sich ganz der | |
| Suche nach der reinen Schönheit der Schwarzkiefern zu widmen, ist | |
| verschwunden. | |
| ## Menschen, die auf Bäume starren | |
| Spätestens hier wird ganz deutlich, dass Yosa innerhalb der Realität dieses | |
| Romans – sofern es eine gibt – keinerlei echte Substanz besitzt, sondern | |
| nur ein vorübergehend manifest gewordener Teil von Gilberts umherirrender | |
| Seele ist. Diese Seele findet nun aber doch allmählich Trost, der nicht | |
| zuletzt darin liegt, dass die Menschen in Japan lange Wege auf sich nehmen, | |
| nur um Bäume zu betrachten. So wie Gilbert einst auf einer Reise in Rom | |
| unermüdlich Wege auf sich nahm, um verschiedene Darstellungen der | |
| Barttracht Gottes zu besichtigen, während die später im Traum untreue | |
| Mathilda es vorzog, auf Plätzen herumzusitzen und Kaffee zu trinken. | |
| Im Japan Bashos aber ist Gilbert vielleicht endlich an einem Ort | |
| angekommen, an dem man sich auch als Bartforscher nicht fehl auf der Welt | |
| fühlt. Auf welcher Ebene dieses Japan existiert, ist zwar recht fraglich. | |
| Ebenso wie Yosa ist es möglicherweise nur eine Emanation von Gilberts | |
| zwischen Selbstzerstörung und Sehnsucht schwankender Seele. Vielleicht ist | |
| es nur ein Traum, hervorgerufen von einer intensiv empfundenen Bettlektüre. | |
| Und vielleicht ist sogar die Bartforschung nur ein Traum. | |
| Aber letztlich spielt all das keine Rolle. Denn dieser Roman handelt nicht | |
| von dieser Welt, weil er eben kein Roman ist. Marion Poschmann schreibt | |
| eine abgründig heitere, makellos schöne Prosa, bleibt aber dabei jederzeit | |
| die Lyrikerin, unter deren metaphorischen Händen alles, was sie anfasst, zu | |
| symbolhafter Form aufläuft und sich damit dem allzu direkten | |
| Wirklichkeitsbezug entzieht. | |
| ## Gibt es den schütteren japanischen Hipsterbart in echt? | |
| Falls dieses Buch also im Rahmen eines wie auch immer gearteten | |
| Japanstipendiums entstanden sein sollte, so hätte die Autorin die an sie | |
| gestellten Erwartungen mit seiner Niederschrift sowohl perfekt bedient als | |
| auch sich ihnen erfolgreich entzogen. Denn es handelt einerseits von Japan | |
| und andererseits eben nicht wirklich. | |
| Wobei man bei manchen Details doch ganz gern wüsste, ob sie der Dichterin | |
| nur im Traum erschienen sind oder ob sie in unserer ganz konkreten Welt | |
| auch existieren. Zum Beispiel dieser extra schüttere japanische Hipsterbart | |
| zum Ankleben. | |
| 2 Oct 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Katharina Granzin | |
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