| # taz.de -- Leipziger Buchpreis für Mathias Enard: Der Orient im Orient des Or… | |
| > Mathias Enard erhält den Leipziger Buchpreis zur Europäischen | |
| > Verständigung. In seinem Roman „Kompass“ rehabilitiert er den | |
| > Orientalismus. | |
| Bild: Ist das noch der Orient? Oder nur orientalische Architektur, die den Orie… | |
| „Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier erkennen: Orient und | |
| Okzident sind nicht mehr zu trennen“, heißt es in „West-östlicher Divan�… | |
| Wenn dem alten Goethe schon vor zweihundert Jahren Orient und Okzident als | |
| untrennbar galten, was sollen wir sagen, in Zeiten, in denen Texte, Klänge, | |
| Rhythmen, Bilder in Sekundenschnelle um die Welt wandern? Wir könnten | |
| versuchen, uns die Weisheit der Liebhaber des Orients von einst zu Herzen | |
| zu nehmen. | |
| Eine solche Rehabilitation des Orientalismus unternimmt Mathias Enard in | |
| seinem Roman „Kompass“, der 2015 in Frankreich mit dem Prix Goncourt | |
| ausgezeichnet wurde. Holger Fock und Sabine Müller, die den Roman ins | |
| Deutsche übertragen haben, sind für den Preis der Leipziger Buchmesse für | |
| Übersetzung nominiert. Und ebendort wird Enard selbst der Leipziger | |
| Buchpreis zur Europäischen Verständigung verliehen werden. | |
| Franz Ritter heißt der Ich-Erzähler von „Kompass“. In Wien lebt der | |
| Musikwissenschaftler, der die Migration von Klängen, Rhythmen, Spielweisen | |
| von Ost nach West und wieder zurück untersucht. Etwa den Einfluss | |
| türkischer Militärmusik auf Mozart, der wiederum die Marschmusik | |
| inspirierte, die Giuseppe Donizetti für die Osmanen komponierte. Aufgrund | |
| einer nicht näher spezifizierten medizinischen Diagnose muss sich Franz | |
| Ritter die bange Frage stellen, ob sich sein Leben womöglich bald zu Ende | |
| neigt. Vielleicht leidet er aber auch nur an einer strukturellen | |
| Depression. | |
| Franz Ritter kann jedenfalls nicht schlafen, eine ganze lange Nacht. In | |
| deren Verlauf vergegenwärtigt sich der Erzähler sein Leben und seine | |
| Forschungsgegenstände, was es seinem Autor Enard ermöglicht, Exkursionen in | |
| Länder wie Syrien, Irak und Iran zu unternehmen und en passant Anekdote an | |
| Anekdote aneinanderzureihen, die sich als kleine Geschichte des | |
| Orientalismus lesen lässt. | |
| ## „Zwei Opiumraucher, jeder in seiner Wolke“ | |
| Der Orientalismus ist Enard nicht bloß Thema. Zwar lässt Enard seinen fast | |
| klischeehaft schüchternen, weltfremden Protagonisten dieses Thema mal brav | |
| und neurotisch detailversessen abarbeiten, mal in kühnen Wendungen | |
| essayistisch umkreisen. Mehr und mehr zeigt sich beim Lesen aber, dass | |
| Enard Humor hat. | |
| Die Geschichte des Franz Ritter selbst folgt ironisch den Projektionslinien | |
| des orientalistischen Begehrens: Denn das Denken dieses im Morgenmantel | |
| grübelnden weißen österreichischen männlichen Orientalisten kreist um die | |
| abwesende, reisende, Abenteuer in der Ferne erlebende geliebte Frau, die | |
| aus einer jüdischen Pariser Familie stammt. Nur eine Nacht verbrachte er | |
| mit ihr, bevor das Schicksal, der plötzliche Tod ihres Bruders, sie wieder | |
| auseinanderriss. | |
| Vom Begehren nach Sarah, der fernen Frau, die er liebt und begehrt, wird | |
| der innere Monolog angetrieben, von dem Ritter nicht lassen kann, als hinge | |
| sein Leben daran. Franz Ritter erzählt um sein Leben, ganz so wie | |
| Scheherezade aus Tausendundeiner Nacht. Was Scheherezade der persische | |
| König ist, der sie jeden Morgen töten könnte, ist Ritter die mysteriöse | |
| Krankheit, seine Krise. | |
| „Wir sind zwei Opiumraucher, jeder in seiner Wolke, ohne etwas draußen zu | |
| sehen, allein, ohne uns je zu verstehen“, so beginnt der nächtliche Monolog | |
| des Franz Ritter. Alles, was wir vom anderen zu wissen glauben, sind | |
| Projektionen, die uns nur etwas über uns selbst erzählen. Den anderen zu | |
| begehren ist der zum Scheitern verurteilte Versuch, die Grenzen des Selbst | |
| zu überschreiten, uns im anderen wiederzufinden. Und so lässt sich auch der | |
| Orientalismus als kulturelles Begehren begreifen, die eigene Beschränktheit | |
| hinter sich zu lassen. | |
| ## Reue und Nostalgie | |
| Das hat die Kritik des Orientalismus, dessen Erfinder laut Franz Ritter | |
| Napoleon war („im Schlepptau seiner Armee kommt die Wissenschaft nach | |
| Ägypten“), nie verstanden. Der Wunsch, sich die Gedichte, Erzählungen und | |
| Klänge des Morgenlands einzuverleiben, der das Abendland umtreibt, wurde | |
| als imperialistische Ideologie entlarvt, als Überbau des kolonialen | |
| Verbrechens denunziert. | |
| In der Tat berichten uns die orientalistischen Erzählungen oft mehr über | |
| ihre Urheber als über den Orient. So zitiert Franz Ritter an einer Stelle | |
| vergnügt Heinrich Heine, der einen Orientalisten fragte: „Wie werden Sie es | |
| anstellen, um vom Orient zu sprechen, wenn Sie erst einmal dort gewesen | |
| sind?“ Franz Ritter zitiert weiter Pessoa, der seinen Álvaro de Campos | |
| sagen lässt: „Und so such ich im Opium / Den Orient im Orient des Orients.“ | |
| Der Orient, das ist der Ort, von dem die eigenen Projektionen | |
| zurückgespiegelt werden. | |
| Doch die Kritik des Orientalismus krankt an ebenjenem Denken in scharfen | |
| Kontrasten, das sie dekonstruieren möchte, sie ist selbst ein | |
| dichotomischer Apparat. Kultur ist eben nicht nur etwas, das auf aggressive | |
| Weise mit Nation und Staat identifiziert wird und dazu dient, „uns“ von den | |
| „anderen“ zu trennen, wie Edward Said schrieb, sondern gerade in der | |
| orientalistischen Moderne vom Begehren nach dem anderen getrieben wird. Dem | |
| Exotismus geht es um Selbstbastardisierung, denkt Franz Ritter. | |
| Zu Edward Said habe er keine Meinung, meint Franz. Sarah aber hat später | |
| mehr zu sagen: „Die Frage sei nicht, ob Said mit seiner Sicht auf den | |
| Orientalismus recht habe oder nicht; das Problem sei die Bruchlinie | |
| zwischen einem Okzident, der beherrsche, und einem Orient, der beherrscht | |
| werde.“ Diese Bruchlinie trage selbst dazu bei, dass sich das Szenario der | |
| Herrschaft vollende, gegen das Said ankämpfen wollte, argumentiert Sarah. | |
| Man müsse „jenseits der dämlichen Reue der einen und der kolonialen | |
| Nostalgie der anderen eine neue Vision entwickeln, die den anderen in sich | |
| einschließe“. Für Sätze wie diesen hat Mathias Enard den Leipziger Preis | |
| für Verständigung verdient. | |
| ## Die Heilung von der Angst | |
| „Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen“, Goethe hat nichts anderes | |
| gesagt, womit er als klüger erscheint als die postkolonialistischen Denker | |
| des 20. Jahrhunderts, als die zeitgenössischen Identitätsfetischisten von | |
| links wie rechts. | |
| Franz Ritter weiß, dass die Orientalisten und Archäologen die imperialen | |
| Armeen, Diplomaten, Händler und Missionare begleitet haben. Aber er sieht | |
| auch die bärtigen Mörder des „Islamischen Staats“, das immer schon brutale | |
| Regime des Assad-Clans in Syrien und die ungebildeten Opportunisten an den | |
| Universitäten der Islamischen Republik, die eine ganze Generation von | |
| jungen Intellektuellen ins Exil getrieben, eingesperrt, gefoltert und | |
| ermordet hat. Als ein „Hoheitsgebiet des Schmerzes und des Todes“ erscheint | |
| ihm der Iran. | |
| Doch der Orient verspricht seinen Besuchern weiterhin „Heilung von einer | |
| geheimnisvollen Krankheit, einer tiefliegenden Angst“. Eben das ist Sarahs | |
| grundlegende These, die auf der bitteren Erkenntnis der Orientreisenden | |
| Annemarie Schwarzenbach beruht: „Im Grund sind wir immer allein.“ | |
| Sarah und Franz lernen sich im steiermärkischen Hainfeld kennen, bei einem | |
| Kolloquium auf dem Anwesen des Joseph von Hammer-Purgstall. Dieser | |
| österreichische Orientalist übersetzte „Tausendundeine Nacht“ und auch den | |
| „Diwan“ des großen persischen Dichters des 14. Jahrhunderts, Hafis, der | |
| Goethe zu seinem eigenen „Divan“ inspirierte: „Und mag die ganze Welt | |
| versinken, / Hafis mit dir, mit dir allein / Will ich wetteifern! Lust und | |
| Pein / Sei uns, den Zwillingen, gemein!“ | |
| 22 Mar 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Gutmair | |
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