# taz.de -- Kommentar Putsch in der Türkei: Vom Vorbild zur Fassadendemokratie | |
> Das Land galt lange als das demokratische Vorbild in der muslimischen | |
> Welt. Jetzt bleibt frustrierten jungen Leuten nur noch die Hinwendung zur | |
> Religion. | |
Bild: Ein bisschen Folkore und jede Menge Nationalismus: Demonstranten auf dem … | |
Wenn arabische Demokraten an die Zukunft dachten, dann kam ihnen über viele | |
Jahre vor allem die Türkei in den Sinn. Sie schien der lebendige Beweis: | |
Auch Muslime können Demokratie! Sogar eine islamistisch ausgerichtete | |
Partei wie die AKP! Das Land erlebte damit sogar einen wirtschaftlichen | |
Aufschwung, galt mithin als neues Kraftzentrum in der Region. | |
Die Türkei war Vorbild und Hoffnung zugleich. War. Der Niedergang der | |
demokratischen Grundordnung in dem Brückenstaat zwischen Orient und | |
Okzident ist deshalb nicht nur für das Land selbst ein Drama. Auch der | |
muslimischen Welt ist die Zuversicht genommen, dass Demokratie und Islam | |
kein Widerspruch sein müssen. | |
Die Türkei ist nun nur noch eine der üblichen nahöstlichen | |
Fassadendemokratien, in der Grundrechte nach Gutdünken an- und abgeschaltet | |
werden, wo die Presse geknebelt, Andersdenkende eingeschüchtert und der | |
Kampf gegen Terror als allgegenwärtiger Unterdrückungsmechanismus | |
eingesetzt werden. | |
Der Putsch nach dem Putsch ist der Höhepunkt einer Entwicklung, die | |
freilich schon länger im Gange ist. Dennoch ist die derzeitige Krise ein | |
spürbarer Rückschlag für die gesamte Region, in der nur noch Israel als | |
funktionierende Demokratie übrig geblieben ist. Wäre der Arabische Frühling | |
nicht schon längst in Herbststürmen untergegangen, wäre dies vermutlich das | |
deprimierende Ende. | |
## Demokratie im Iran | |
Kurioserweise ist nun ausgerechnet die islamische Republik Iran das einzige | |
muslimische Land der Region geblieben, in dem noch ein Rest Demokratie | |
existiert. Allerdings theokratisch gesteuert: Kandidaten müssen vor der | |
Wahl von religiösen Instanzen für unbedenklich erklärt werden. Hunderte | |
fallen bei dieser Prüfung für gewöhnlich durch. Dass Demokraten im Nahen | |
und Mittleren Osten sich ihre Zukunft anders vorstellen, muss man nicht | |
eigens betonen. | |
Als Vorbild bleibt, wenn überhaupt, nun nur noch Dubai: wirtschaftlich | |
erfolgreich und ein bisschen freier als die Nachbarstaaten. Doch politisch | |
wie kulturell ist auch das Emirat eine tote Hülle ohne eigene | |
Zivilgesellschaft und Innovationskraft. | |
Zurück bleiben in der muslimischen Welt folglich Millionen frustrierter | |
junger Leute ohne Zukunftsperspektive. Als Orientierung und Hoffnung bleibt | |
dann oft nur noch die Religion – mit allen negativen Folgen einer möglichen | |
Radikalisierung. | |
Die Krise am Bosporus ist deshalb viel größer als die Türkei selbst. Ohne | |
Demokratie wird es im Nahen Osten bestenfalls die lähmende bleischwere | |
Stabilität geben, die wir von Hosni Mubarak und Muammar al-Gaddafi kennen. | |
Eine grausige Vorstellung. | |
19 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Silke Mertins | |
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