| # taz.de -- Der Putschversuch hat das Land verändert: Ich habe Angst | |
| > Der Gegenschlag trifft nicht nur Putschisten. Es kursieren schon Listen | |
| > mit den festzunehmenden linken Journalisten. Die Gefühlslage eines | |
| > Kollegen vor Ort. | |
| Bild: Die Aussichten sind trübe: Ein Mann am Montag in Istanbul | |
| Ich habe Angst. Angst um die Zukunft, um meine Familie, meinen Sohn. Gerade | |
| habe ich einen Tweet gelesen. Abgeschickt in der Nacht des Putschversuchs, | |
| als Soldaten die Bosporus-Brücke abriegelten und von Zivilisten überwältigt | |
| werden. „Schneidet ihnen die Kehlen durch! Werft sie von der Brücke, | |
| übergebt sie nicht der Polizei!“ Tatsächlich wird einem Rekruten an der | |
| Bosporus-Brücke von einem Lynchmob die Kehle durchgeschnitten. Die Videos | |
| kursieren im Internet. | |
| Der Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu sagt einen Tag später ganz in | |
| höflichem Ton, dass neben den Putschisten auch solche Straftaten verfolgt | |
| werden müssten. Der Urheber des Tweets, der zum Lynchmord auffordert, | |
| ordnet am nächsten Mittag – wieder auf Twitter – den Widerstand gegen die | |
| Putschisten in einen politischen Zusammenhang ein: „Unser Aufstand gegen | |
| die Verräter ist nicht für die Demokratie. Unser Aufstand ist für die | |
| Scharia, für die Fahne, für das Vaterland und für die Ehre.“ | |
| Ein Tweet eines Durchgeknallten mit marginalen politischen Ansichten würde | |
| mir keine Angst bereiten. Denn es ist nicht die Sprache der Wähler, die | |
| Tayyip Erdoğan zum Präsidenten gewählt haben. Es ist nicht die Sprache der | |
| Menschen, die sich den Putschisten entgegenstellten. Trotzdem bekommen | |
| heute solche Figuren, die zu Mord, Rache und Gewalt aufrufen Rückenwind. | |
| Es sind jene, die jubeln, wenn Seren Malkoç, einer der Chefberater | |
| Erdoğans, im Fernsehen fordert, dass das Waffenrecht gelockert werden muss, | |
| damit sich die „Nation bewaffnet“. Und die das ganz in Ordnung finden, wenn | |
| Veysel Taşkın, der stellvertretende Vorsitzende des Basketballclubs | |
| Trabzonspor, über die Putschisten erklärt: „Eigentum und Frauen der | |
| Hurensöhne sind ab heute Kriegsbeute der Nation.“ | |
| Es sind jene, die eine Puppe des in Pennsylvania lebenden Predigers | |
| Fethullah Gülen, der für den Putschversuch verantwortlich gemacht wird, am | |
| Galgen vor dem Atatürk-Flughafen baumeln lassen. | |
| Jene, die in diesen Tagen der Unordnung keine Strafverfolgung zu befürchten | |
| haben, wenn sie Frauen anmachen und verprügeln, weil sie leicht bekleidet | |
| sind, oder jemanden krankenhausreif schlagen, weil er ein Bier trinkt. Oder | |
| der arme UPS-Paketzusteller am Flughafen Sabina Gökçen, der in letzter | |
| Minute Prügel entgeht, weil sie ihn für einen vermeintlichen Soldaten | |
| halten. | |
| ## Erinnerungen an den Militärputsch 1980 | |
| Ich war in Deutschland, als die türkischen Militärs am 12. September 1980 | |
| putschten. Viele meiner Freunde wurden gefoltert. In Massenprozessen wurde | |
| der politischen Opposition der Garaus gemacht. Es gibt keinen Zweifel, dass | |
| dies uns auch bevorgestanden hätte, wenn die Putschisten am vergangenen | |
| Freitag die Macht ergriffen hätten. | |
| Doch auch für die Putschisten in den 1980er Jahren gab es Tabus. Folter | |
| fand klammheimlich statt. Offiziell war sie verboten. Es kam den | |
| Putschisten nicht in den Sinn – als Abschreckung sozusagen –, Menschen mit | |
| Folterspuren vor der Kamera zu erniedrigen. | |
| Genau das macht heute die amtliche Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi. Sie | |
| verbreitet Videos und Fotos von ganz offensichtlich verprügelten, | |
| gefolterten, blutüberströmten Offizieren, die in Haft sind. „Es erinnert | |
| mich an Abu Ghraib“, sagt ein Freundin. Eine, die die Folterkammern der | |
| Putschisten von damals kennt. | |
| Während der Gezi-Proteste, als sich die Jugend in der Türkei für mehr | |
| Demokratie, Menschenrechte und politische Teilhabe aufbegehrte und den | |
| Taksim-Platz besetzte, hat Tayyip Erdoğan damit gedroht, „sein“ Volk, | |
| „seine 52 Prozent“, die ihn gewählt hatten, auf die Straße zu schicken. | |
| Doch den Menschen, die ihn gewählt hatten, lag nichts ferner, als | |
| friedfertige Jugendliche zusammenzuschlagen. Die Gezi-Proteste wurden mit | |
| ungeheurer Brutalität von regulären Sicherheitskräften niedergeschlagen. | |
| ## Die Islamische Armee des Propheten | |
| Auf einen Teil der Anhänger, die er damals nicht mobilisieren konnte, kann | |
| Erdoğan heute zählen. Allen voran – und dies ist höchst skurril – auf je… | |
| islamistischen Extremisten, die ohnehin nichts von Demokratie halten. Für | |
| sie ist Erdoğan ein Führer, der gleichsam Oberkommandant der islamischen | |
| Armee des Propheten ist. | |
| Obwohl der Putsch gescheitert ist, ruft Erdoğan die Menschen auf, bis Ende | |
| der Woche zu demonstrieren. Fahrten mit U-Bahnen und Bussen sind kostenlos, | |
| per SMS ruft der türkische Staat dazu auf, zum Taksim-Platz zu marschieren. | |
| Dennoch sind es nicht Hunderttausende, nicht Millionen Menschen, die der | |
| Aufforderung Folge leisten. | |
| Noch keine fünf Jahre sind vergangen, als die Erdoğan-treuen Zeitungen über | |
| Wochen hinweg eine Horrorschlagzeile nach der anderen bastelten. | |
| Hochrangige Generäle saßen im Knast, dem ehemalige Generalstabschef wurde | |
| als Kopf einer „terroristischen Vereinigung“ der Prozess gemacht. | |
| Staatsanwaltschaft, Gericht und Erdoğan-Medien präsentierten uns | |
| „Geheimpläne der Putschisten“, die in der berühmten Fatih-Moschee Bomben | |
| legen wollten. Erdoğan profilierte sich damals gegen die Militärs. „Ich bin | |
| der Staatsanwalt in diesem Prozess.“ | |
| Erdoğans damaliger Kumpan, der Prediger Fethullah Gülen, hatte mit Beihilfe | |
| der Regierung Staatsanwaltschaft und Justiz erfolgreich unterwandert. Ein | |
| gewaltiges Komplott. Mit gefälschtem Material, fingierten Beweismitteln | |
| wurde die Armeespitze „gesäubert“. Die Nachrücker waren Militärs, die der | |
| Gülen-Bewegung und Erdoğan nahestanden: die Putschisten von heute. Erst als | |
| sich die Wege von Gülen und Erdoğan trennten, flog das Komplott auf, und | |
| die damaligen Staatsanwälte und Richter sind auf der Flucht. | |
| ## Erdoğan verkündet die „große Säuberung“ | |
| In der Fatih-Moschee, bei der Beerdigung seines Werbestrategen, der bei dem | |
| Putschversuch getötet wurde, kamen Erdoğan am Sonntag die Tränen. Erdoğan | |
| spricht im Zusammenhang der Gülen-Bewegung von „Krebsmetastasen“ und | |
| verkündet die „große Säuberung“. Sie ist in vollem Gange. | |
| Und schon jetzt ist klar, dass es nicht nur gegen Putschisten und | |
| Gülen-Anhänger gehen wird. Die große Säuberung scheint von langer Hand | |
| vorbereitet. Nicht nur im Militär. Haftbefehle gegen fast 3.000 Richter und | |
| Staatsanwälte. Fast 9.000 Beamte des Innenministeriums suspendiert. | |
| Journalisten, Universitäten, unliebsame Unternehmer werden die Nächsten | |
| sein. Zwanzig kritische Nachrichtenportale sind mittlerweile gesperrt. Es | |
| kursieren schon Listen mit den festzunehmenden linken Journalisten. | |
| Der Staat schickt auf mein Handy messages – mit der E-Mail-Adresse des | |
| Innenministeriums. Ich soll Leute auf Facebook und Twitter denunzieren. | |
| Von Demokratie, von Rechtsstaatlichkeit spricht kaum jemand. Ich lese und | |
| höre immer wieder „Ein Volk, eine Nation, ein Führer“. Und dann der Tweet | |
| eines aufrechten Kollegen, der in keinem Mainstream-Medium mehr schreiben | |
| darf, weil er Kritisches über Erdoğan gesagt hat: „Der Putsch war kein | |
| Reichstagsbrand. Aber er wird Folgen haben wie der Reichstagsbrand“. | |
| Ich erschauere. | |
| 18 Jul 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Ömer Erzeren | |
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