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# taz.de -- Porträt Recep Tayyip Erdoğan: Er kam aus einfachen Verhältnissen
> Der heutige türkische Präsident wollte ganz nach oben. Dafür hat der
> Junge aus einem Arme-Leute-Stadtteil Istanbuls alles getan. Ist er nun am
> Ziel?
Bild: Als Jugendlicher liebte Erdoğan Fußball und Religion
Berlin taz | Es sind zwei riesige Banner, die zeigen, wer nun der Herrscher
über die Türkei ist: Seit dem vereitelten Putschversuch hängen am
Atatürk-Kulturzentrum am Istanbuler Taksim-Platz zwei Stoffbahnen mit einem
Porträt des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Vor drei Jahren
demonstrierten hier noch seine Gegner, jetzt feiern jeden Abend Tausende
ihren Tayyip, wie sie ihn nennen. Der zunehmend autokratische Herrscher hat
es erneut geschafft, aus einer Krise als Gewinner hervorzugehen – und noch
nie war er so stark und rachsüchtig wie im Moment.
Seinen Gegnern gilt der 62-Jährige als Kriegstreiber, von seinen
Unterstützern hingegen wird er wie ein Messias verehrt. Erdoğan, so schrieb
kürzlich das US-Magazin Foreign Policy, sei die „anatolische Version des
russischen Präsidenten“ Wladimir Putin. Als Erdoğan 2003 das Amt des
Ministerpräsidenten antrat, tat er das mit dem Versprechen eines liberalen,
modernen Islam.
Inzwischen ist er zu einem Autokraten geworden, vor dem ein großer Teil der
Bevölkerung zittert. Zugleich ist er so beliebt wie nie zuvor. Millionen
Türken jubeln ihm auf den Straßen zu, weil er den Militärputsch erstickt
hat. Sie rufen „Allahu akbar – Gott ist groß“, sie schwenken türkische
Flaggen und sind euphorisiert, weil Erdoğan laut über die Wiedereinführung
der Todesstrafe nachdenkt.
2014 wurde er mit klarem Vorsprung zum Präsidenten gewählt, bei den
Parlamentswahlen im November vergangenen Jahres bekam die von ihm
mitgegründete Regierungspartei AKP sagenhafte 49,5 Prozent – ein
Vertrauensbeweis, den Erdoğan dafür nutzt, dem Amt des Staatsoberhauptes
immer mehr Befugnisse zu verschaffen: Die Türkei soll zum Präsidialsystem
umgebaut werden. Jetzt erst recht. Und nicht nur im eigenen Land, auch
international kommt kaum jemand an ihm vorbei: Als Schleusenwärter des
Flüchtlingsstroms steuert er, wie viele Hilfesuchende nach Europa gelangen,
und diktiert der EU seine Bedingungen. Diese Karriere wäre nicht möglich
ohne den Ehrgeiz und die Machtverbissenheit, die nur ein Außenseiter
mitbringen kann.
## Er hat ein Ziel: Er will nach oben
Betrachtet man die Biografie des Staatschefs, wird vor allem deutlich:
Schon als Kind muss er erfahren, was es bedeutet, als Außenseiter gegen den
Strom schwimmen zu müssen, um seine religiösen Ideale in einem
laizistischen System nicht zu verraten. Er ist ehrgeizig, will sich in
einer Reihe mit der Elite sehen, die auf ihn als Gläubigen und aus
bescheidenen Verhältnissen stammenden Mann herab schaut. Trotz Politik- und
Parteiverboten gibt er nie auf – im Gegenteil: Er erfindet sich immer
wieder neu, bis er ganz oben angekommen ist. Freundschaften halten bei ihm
nur so lange, wie sie ihm nützen.
Seinen Weggefährten über Jahre und Vorgänger im Präsidentenamt Abdullah Gül
etwa hat er entsorgt, als das politische Kalkül es erforderte. Erdoğan
interessiert die Meinung aus dem Ausland wenig, maßgeblich sind
mehrheitsfähige Positionen bei seinen Stammwählern. Und wenn er Freunde
schnell vergisst, dann gilt das nicht für seine Feinde: Er ist nachtragend
und zornig auf alle, die es wagen, ihn zu hinterfragen, und rechnet
irgendwann ab.
Wer sich auf die Suche nach dem Menschen hinter dem Staatsoberhaupt macht,
muss in Kasımpaşa, einem für Kleinkriminalität berüchtigten Istanbuler
Stadtteil, beginnen. Als Sohn eines mittellosen Seemannes musste der 1954
geborene Erdoğan Lebensmittel auf der Straße verkaufen, um sich
Schulutensilien leisten zu können. Die Familie Erdoğan gehörte zu den
„schwarzen Türken“: jener Unterschicht, die über Jahrzehnte von den „we…
Türken“, den Abkömmlingen der Eliten um Staatsgründer Kemal Atatürk,
unterdrückt wurde. „Schwarze“ durften höchstens die Häuser der „Weiße…
putzen, für mehr waren sie nicht vorgesehen.
## Liebe zu Fußball und zur Religion
Erdoğan besuchte ein religiöses Gymnasium, eine sogenannte
Imam-Hatip-Schule. Es heißt, dass er sich im Unterricht einmal geweigert
habe, eine Zeitungsseite als Gebetsteppich zu verwenden – weil es
unislamisch sei, auf einem Stück Papier zu beten. Andererseits begeisterte
sich Erdoğan so sehr für das von seinem Vater als unislamisch abgelehnte
Fußballspiel, dass er seine Sportkleidung zu Hause im Kohlekasten
versteckte und heimlich kicken ging. Sein Talent hätte sogar für eine
Profikarriere gereicht. Aber er schlug sie seiner Familie zuliebe aus und
entschied sich für ein Wirtschaftsstudium.
Da Erdoğan, der Junge aus Kasımpaşa, selbst gestalten will, schließt er
sich mit 15 Jahren der neuen islamistischen Nationalen Ordnungspartei, der
MSP, an, die bei der Entstehung der islamischen Millî-Görüş-Bewegung eine
Vorreiterrolle spielt. Erdoğans politischer Ziehvater wird MSP-Gründer
Necmettin Erbakan, ein derber muslimischer Fundamentalist und Antisemit.
Als die Partei von den Kemalisten verboten wird, wechselt Erdoğan zur
„Wohlfahrtspartei“, für die er 1994 erfolgreich als Bürgermeister von
Istanbul kandidiert. Er muss nicht nur eine Millionenmetropole verwalten,
sondern auch eine der liberalsten Städte der islamischen Welt.
„Wie wird es nun weitergehen?“, fragt damals ein Kommentator des türkischen
Dienstes der BBC. Erdoğan erarbeitet sich rasch Renommee. Er ist
pragmatisch und löst in kurzer Zeit viele Probleme der Stadt. 600.000 Bäume
werden gepflanzt, die Müllabfuhr wird neu organisiert und funktioniert
danach, und er erringt Erfolge im Kampf gegen die Korruption. Doch Erdoğan
kann auch nicht von seinen Millî-Görüş-Instinkten lassen. Immer wieder
sorgt er mit seiner konservativen Glaubensauslegung in der laizistischen
Republik für Unmut. Auf Plakatwänden lässt er die Abbildung leicht
bekleideter Frauen verbieten, in städtischen Betrieben den Ausschank von
Alkohol.
## Kampagnen gegen Erdoğan
Die säkularen Kemalisten arbeiten an Erdoğans Sturz: Um ihn als Islamisten
zu brandmarken, gelangt ein Video in Umlauf, in dem Erdoğan 1992 den
afghanischen Taliban zur „Gründung einer islamischen Republik“ gratuliert.
Ein Bild aus dem Jahre 1993 wird herumgereicht, das ihn in Kabul zu Füßen
von Gulbuddin Hekmatyār zeigt – jenem afghanischen Premierminister, der
später Osama bin Laden zur Flucht verholfen haben soll und zum Krieg gegen
die USA aufrief.
Schließlich liefert ein Gedicht den Vorwand für seine Entmachtung. 1997,
damals noch Bürgermeister Istanbuls, zitiert Erdoğan den pantürkischen
Dichter Ziya Gökalp: „Die Minarette sind unsere Bajonette, die Kuppeln
unsere Helme, die Moscheen unsere Kasernen und die Gläubigen unsere
Soldaten.“ Das Staatssicherheitsgericht verurteilt ihn zu zehn Monaten
Gefängnis wegen „religiöser Volksverhetzung“.
Erdoğan habe gegen die säkulare Staatsordnung, also die Trennung von Staat
und Religion, verstoßen. Die Richter sehen in ihm den Anführer einer
radikalen islamischen Bewegung. Er beklagt sich: „Wenn ich kein Gedicht
lesen würde, sondern ein Nummernschild, würden sie wieder einen Grund
finden, mich in den Knast zu sperren“. Vier Monate der Strafe sitzt er von
März bis Juli 1999 ab und verliert das Amt des Bürgermeisters.
## Der muslimische Realo
Hinter Gittern begreift Erdoğan, dass er nicht mit religiösen Inhalten
gegen die „weißen Türken“ ankommen kann, sondern nur, indem er
realpolitische Fakten schafft. Als muslimischer Realo baut er 2001 die
Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, seine AKP, auf – laut eigener
Definition nach dem Vorbild der europäischen Christdemokraten. Mit einer
Charmeoffensive vor allem bei den „schwarzen Türken“ gewinnt die AKP 2002
kurz nach der schwersten Wirtschaftskrise der Republik die Mehrheit. Durch
eine Gesetzesänderung und eine Nachwahl erobert Erdoğan 2003 das Amt des
Premierministers und bestimmt seitdem die Geschicke des Landes.
Damals steht Erdoğan für einen rationalen Blick auf die Politik. Er wirbt
für einen EU-Beitritt, setzt demokratische Reformen um, ist neugierig und
eloquent. Zwar flirtet er immer wieder mit reaktionären Positionen, ist
aber gewillt, Lösungen zu finden, die dem Land guttun. Ganz konkret
verdankt die Türkei Erdoğan unter anderem eine modernisierte Infrastruktur,
ein reformiertes Sozialsystem und eine deutlich verbesserte
Krankenversorgung.
Zudem schaffte er es, dem Land ein ganzes Jahrzehnt lang ungewohnte
politische und ökonomische Stabilität zu bescheren. Die Türkei verzeichnet
zeitweise ein Wirtschaftswachstum von fünf Prozent jährlich. Er wagt einen
Neuanfang in der Kurdenpolitik und demilitarisiert das Land.
## Der selbstherrliche Autokrat
Doch das „Anything goes“, in den ersten Amtsjahren Ausdruck unbegrenzter
Möglichkeiten des Fortschritts, ist mittlerweile zur autoritären Dominanz
erstarrt: Noch immer muss alles gehen – aber jetzt nur nach Erdoğans
Willen. Seine politische Agenda ist er selbst. Wenn man den frühen und den
aktuellen Erdoğan vergleicht, wirkt der heutige wie ein gnadenloser
Egoshooter. Mit jedem Wahlsieg wird er selbstherrlicher und autokratischer.
Die AKP ist zur Machtbastion eines hyperzentralistischen Systems geworden,
der Staat bis tief in seine Kapillaren mit Parteigängern durchsetzt.
Erdoğan hat den Rechtsstaat ausgehöhlt, regierungskritische Institutionen
für seine eigenen Interessen zurechtgeformt, Medien manipuliert, die
Gesetzgebung korrumpiert. Mit politisch motivierten Prozessen werden
Kritiker wie nicht genehme Journalisten und Oppositionspolitiker mundtot
gemacht, immer öfter demonstriert der Präsident seine Verachtung gegenüber
dem, was für ihn nur intellektuelles Gehabe ist.
Der Weltöffentlichkeit wird die Radikalisierung Erdoğans erst 2013 so
richtig klar: Demonstranten protestieren gegen die von dem seinerzeitigen
Ministerpräsidenten beförderte Bebauung des Gezi-Parks, Erdoğan lässt sie
brutal niederschlagen. Der Reformprozess in der Türkei kommt zum Erliegen,
stattdessen beginnt der Aufbau eines repressiven Systems. Seinen Gegnern
droht er damit, sie zu „zerdrücken“. Seinen Kritikern donnert er entgegen:
„Kenne deine Grenzen.“ Regierungsgegner beschimpft er wahlweise als
„israelisches Sperma“, „Blutegel“ oder „degeneriertes, unmoralisches
Gesindel“.
## Knast für ein harmloses Facebook-Posting
Derzeit sitzen rund 30 Journalisten im Gefängnis. Schon ein
regierungskritisches Facebook-Posting kann für eine Verhaftung ausreichen.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit liegt das Land auf Platz 151 von 180
Staaten. Im Südosten des Landes herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände,
jederzeit ist mit Anschlägen von Dschihadisten der Terrormiliz „Islamischer
Staat“ oder kurdischen Terrororganisationen zu rechnen. Allein zwischen
Juli 2015 und März 2016 sterben bei sechs Attentaten rund 220 Menschen. Auf
dem Global Peace Index, der die friedlichsten Länder der Welt auflistet,
rangiert die Türkei auf Platz 135 von 162 Ländern.
Seine Schreckensherrschaft wirkt: Als die Türkei 2014 ihren Präsidenten zum
ersten Mal direkt wählt, gewinnt der volkstümliche Charismatiker mit den
Instinkten eines Straßenkämpfers. Wer annimmt, dass ihn das gelassener
macht, irrt: Oppositionelle brandmarkt er als vom Ausland gesteuerte
Umstürzler. Regierungskritische Bücher werden verboten; die
Sicherheitskräfte sind effizient, wenn es darum geht, Demonstrationen in
Tränengas zu ersticken – aber unfähig, Terroranschläge zu verhindern.
Immer weniger Türken wagen es, von ihrer Angst zu sprechen, denn schon
allein dies gilt als Verrat. Wer Widerstand leistet, wird wahlweise von
Steuerprüfern in die Mangel genommen, unter Terrorismusverdacht gerückt
oder wegen „Beleidigung des Präsidenten“ belangt: über 2.000 Verfahren na…
diesem Paragrafen sind anhängig. Bei einem Schuldspruch drohen bis zu vier
Jahre Haft. Wer freigesprochen wird, bleibt trotzdem nicht unbehelligt: Im
Internet begehen AKP-Trolle Rufmord an Regierungskritikern und drohen mit
Vergewaltigung und Schlimmerem.
Nach dem gescheiterten Militärputsch findet nun ein Politputsch statt. Der
Ausnahmezustand ermöglicht es dem Präsidenten, per Dekret zu regieren.
Massive Einschränkungen der Presse- und der Bewegungsfreiheit werden
legitimiert. Nur wenige Stunden nach der vereitelten Revolution freute
Erdoğan sich: „Dieser Aufstand, diese Bewegung ist wie ein Geschenk
Gottes.“ Dann lieferte er seine Begründung: „Dieser Putsch gibt uns die
Gelegenheit, die Streitkräfte zu säubern.“ Die blutige Niederschlagung
lobte er als eine „Heldentat der Demokratie“ – kurz danach beginnt die
Säuberungswelle.
22 Jul 2016
## AUTOREN
Cigdem Akyol
Çiğdem Akyol
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