# taz.de -- Debatte Erdogan nach dem Putschversuch: Die Türkei, wie sie ihm ge… | |
> Präsident Erdoğan baut sich sein Land so zusammen, wie er es will. Statt | |
> einer EU-Mitgliedschaft strebt er ein islamisches Bündnis an. | |
Bild: Unter dem Deckmantel des Volksbegehrens: Erdoğan allein entscheidet dar�… | |
Alles wird jetzt von der Weisheit des türkischen Präsidenten Recep Tayyip | |
Erdoğan abhängen, schrieb der liberale Kolumnist Semih Idiz in diesen Tagen | |
in der Zeitung Hürriyet. Und Weisheit ist hier nicht sarkastisch gemeint. | |
Sondern: Wird Erdoğan anerkennen, dass auch seine politischen Gegner, der | |
große Teil der säkularen Bevölkerung des Landes, sich gegen die Putschisten | |
ausgesprochen haben? Wird er begreifen, dass darauf eine neue Gemeinsamkeit | |
aufgebaut werden kann? Wird Erdoğan, wenn sich die erste Großaufregung über | |
den Putschversuch gelegt hat, statt Konfrontation Versöhnung anstreben? | |
Angesichts [1][des Ausnahmezustands], der Massenverhaftungen, der | |
Entlassungen und der systematisch geschürten Hysterie auf den Straßen, der | |
immer wieder ausführlich ventilierten Frage der Wiedereinführung der | |
Todesstrafe spricht alles dagegen. | |
Im Moment sieht es so aus, dass Erdoğan den Putschversuch dazu nutzt, eine | |
Entwicklung, die er sowieso vorantreiben wollte, im Zeitraffer zu | |
vollziehen. Politische Gegner ausschalten, alle staatlichen Institutionen | |
auf Linie bringen und den Bau der „neuen Türkei“ mit ihm als unumstrittenen | |
Führer abzuschließen. Kurzum: die letzten Reste der demokratischen Fassade | |
fallen zu lassen. | |
Bislang hat Erdoğan selbst bei der erzwungenen Neuwahl im November 2015 die | |
Fassade der demokratischen Prozedur aufrechterhalten. Es wurde schließlich | |
gewählt. Er hat auch immer noch versucht, im Parlament eine Mehrheit für | |
eine neue Verfassung zu bekommen, die dann ein Präsidialsystem mit aller | |
Macht für den Präsidenten vorsehen soll. Die Oppositionsparteien wurden | |
zwar bedrängt, die Immunität etlicher Parlamentarier wurde aufgehoben, aber | |
dennoch: Es gibt eine Opposition. | |
Volksbefragung zur Todesstrafe | |
Bislang hat Erdoğan auch immer noch versichert, die Türkei wolle Mitglied | |
der EU werden und sei doch dabei, die dafür notwendigen Reformen zu | |
vollziehen. Er hat zwar in vielen Auftritten übel gegen den Westen | |
gewettert, dann aber doch Wert darauf gelegt, vom US-Präsidenten empfangen | |
zu werden oder als Beitrittskandidat in Brüssel aufs Familienfoto zu | |
kommen. | |
Jetzt aber ist eine andere Tendenz erkennbar. Erdoğan steuert auf eine | |
Volksbefragung zur Wiedereinführung der Todesstrafe zu, für das er bereits | |
die Zustimmung der ultrarechten MHP eingeholt hat und in dem wahrscheinlich | |
weitere Verfassungsänderungen auf dem Zettel stehen werden. Der Präsident | |
würde sich damit aus dem europäischen Kosmos endgültig verabschieden. | |
Legt man das bisherige Vorgehen Erdoğans als Maßstab für die kommenden | |
Entscheidungen zu Grunde, wird es genau so kommen. Er wird das Momentum | |
nutzen und sich als absoluter Herrscher per Volksabstimmung inthronisieren | |
lassen. Dass er eine solche Volksabstimmung gewinnen würde, steht außer | |
Frage. | |
Widerstand unwahrscheinlich | |
In der Türkei selbst wird nun schwerlich noch ein wirksamer Widerstand zu | |
organisieren sein. Von den Parteien hat Erdoğan die MHP mehr oder weniger | |
auf seiner Seite. Die Sozialdemokratische CHP ist geschwächt. Ihr haftet | |
immer noch der Verdacht an, als ehemalige kemalistische Staatspartei | |
insgeheim mit dem Militär zu paktieren, sie hat in der Öffentlichkeit | |
deshalb gerade jetzt keinerlei Chance. | |
Das gilt in noch größeren Maße für die kurdisch-linke HDP. Die Partei, die | |
noch vor einem Jahr wie einer der entscheidenden Akteure der Türkei aussah, | |
ist durch die ständige Denunziation, sie sei der verlängerte Arm der PKK, | |
heute praktisch aufgerieben. Den Rest werden die Gerichte besorgen, wenn | |
die HDP-Chefs, deren Immunität aufgehoben wurde, wegen Terrorunterstützung | |
angeklagt werden. | |
Im Inland hat Erdoğan für alle Optionen freie Bahn. Ist es denkbar, dass | |
die derzeitige Entwicklung noch von außen gestoppt wird? Es ist schon seit | |
Jahren klar, dass Erdoğan mit der EU-Perspektive nur noch spielt. Genauso | |
wenig wäre die EU bereit, die Türkei aufzunehmen, egal wie viel Erdoğan | |
dafür tun würde. Da wird von beiden Seiten schon lange nur noch die Fassade | |
bedient. Warum sollte Erdoğan also auf die Todesstrafe verzichten, nur weil | |
der Beitrittsprozess dann auch förmlich beendet würde? | |
Bisher gab es darauf eine klare Antwort: die Märkte. Solange der | |
Beitrittsprozess läuft, sieht die internationale Finanzwelt die Türkei in | |
Europa verankert und ist entsprechend bereit, die Kreditwürdigkeit des | |
Landes höher zu bewerten, als das ohne den EU-Anker der Fall wäre. Danach | |
richtet sich aber die Bereitschaft internationaler Anleger, in der Türkei | |
Geld anzulegen – Geld, auf das das Land dringend angewiesen ist. | |
Islamische Wirtschaftsunion statt EU | |
Die Popularität Erdoğans hing bislang in starkem Maß davon ab, dass er der | |
Türkei einen satten Wirtschaftsaufschwung bescherte. Doch es könnte sein, | |
dass er glaubt, seine Abhängigkeit von Westen auch auf dem Finanzsektor | |
abschütteln zu können. Schon während des Gezi-Aufstands kamen von ihm | |
verstörende Statements, nach denen internationales Finanzkapital hinter dem | |
Aufstand der säkularen Jugend stehend würde. Auch das Argument, | |
internationale Anleger bräuchten Rechtssicherheit, hat ihn schon bislang | |
nicht davon abgehalten, die unabhängige Justiz weitgehend zu zerschlagen. | |
Statt vom Beitritt zur EU träumt Erdoğan von einer islamischen | |
Wirtschaftsunion, in der seine Türkei den entscheidenden Part spielen | |
könnte. Finanziert werden soll diese Wirtschaftsunion mit saudischem und | |
katarischem Öl – und Gas-Geld. Nicht zufällig bemüht sich Erdoğan seit | |
einem Jahr um eine Allianz mit den Saudis, angetrieben von einem | |
gemeinsamen Interesse im Krieg in Syrien. | |
Ein kompletter Bruch mit dem Westen – mindestens mit Europa – ist deshalb | |
durchaus denkbar. Aus der Nato wird man die Türkei schon nicht | |
hinauswerfen, dafür ist sie geostrategisch zu wichtig, auch mit einem | |
autokratischen Herrscher ohne demokratische Fassade. Ist die Demokratie in | |
der Türkei nun für lange Zeit nur mehr ein schöner Traum? Ist der 150 Jahre | |
andauernde Weg nach Westen für die Türkei nun vorbei? Auf die Weisheit | |
Erdoğans zu hoffen, zeigt jedenfalls nur, dass eben die Hoffnung immer | |
zuletzt stirbt. | |
21 Jul 2016 | |
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## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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