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# taz.de -- Erdogans „Säuberungen“ in der Türkei: Schulverbot für kritis…
> Die Massenentlassung vermeintlicher Regimegegner trifft auch LehrerInnen.
> In den kurdischen Gebieten herrscht deshalb Bildungsnotstand.
Bild: An der Schule unerwüscht: entlassene Lehrer in Diyarbakir beim Sitzstrei…
Diyarbakir taz | „Vor unseren Augen wurde ein neunjähriges Mädchen
erschossen und wir sollten einfach wegschauen. Das geht doch nicht!“ Hikmet
Korkmaz ist auch Wochen später noch empört, wenn er darüber spricht. Er ist
Lehrer, doch aus mehreren Gründen kann er nicht mehr unterrichten. Ein
Grund ist, seine Schule gibt es nicht mehr.
„Meine Schule“, erzählt Hikmet, „lag in der Altstadt von Diyarbakır, do…
wo monatelang kurdische Jugendliche gegen die Armee kämpften. Die Schule
existiert nicht mehr. Sie wurde abgerissen und an ihrer Stelle eine
Polizeistation errichtet.“
Hikmet Korkmaz kann aber auch nicht an einer anderen Schule unterrichten.
Er gehört zu den 4.314 Lehrern in Diyarbakır, die eine Woche vor dem
Schulstart Ende September vom Bildungsministerium in Ankara auf einen
Schlag suspendiert wurden. 4.314 Lehrer, das sind ein Viertel aller Lehrer
an den öffentlichen Schulen in der Millionenmetropole Diyarbakır.
Die vom Dienst suspendierten Lehrer habe alle eins gemeinsam: Sie sind in
der Lehrergewerkschaft Eğitim Sen organisiert. Und sie haben sich, wie
Hikmet Korkmaz, der über den Tod seiner Schülerin erschüttert war, Ende
Dezember 2015 an einem eintägigen Ausstand beteiligt, mit dem sie für
Frieden in ihrer Stadt demonstrieren wollten.
Hikmet Korkmaz, Deniz Özgür, Selahattin Alp und Faisal Korkmaz sind alle
aus diesen beiden Gründen entlassen worden. Sie sind im Vorstand der
Lehrergewerkschaft und fürchten, dass sie wohl zu denjenigen gehören
werden, die ihren Job nicht wieder zurückbekommen. Landesweit sind in der
Türkei seit dem Putschversuch vom 15. Juli rund 50.000 LehrerInnen
suspendiert oder entlassen worden.
## 30.000 Pädagogen entlassen
Zunächst ging es dabei um Lehrer, die in Privatschulen oder -unis der
Gülen-Bewegung unterrichtet haben. Alle diese Einrichtungen wurden
geschlossen, Lehrer, Dozenten und Professoren auf die Straße gesetzt.
Etliche wurden auch als Putsch-Unterstützer festgenommen – oder weil sie
gegen die Entlassung ihrer Kollegen protestierten. Rund 30.000 Pädagogen
verloren ihren Job.
Im zweiten Schritt ging es dann gegen kritische Lehrer insgesamt, vor allem
solche, die in der linken Lehrergewerkschaft Eğitim Sen organisiert sind.
Im September verkündete das Bildungsministerium die Suspendierung von
11.500 Lehrern in den kurdischen Gebieten. Die 4.314 Lehrer in Diyarbakır
waren Teil dieser Entlassungswelle. Obwohl es offiziell keine Begründung
für die Entlassungen gibt, ist klar, dass ihnen allen erst einmal pauschal
Sympathie für die kurdische Guerilla PKK unterstellt wird.
Die Auswirkung dieser Massenentlassung sind katastrophal. „In Diyarbakır“,
erzählt Selahattin Alp, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Eğitim Sen, „ist
die Klassenstärke von 35 auf 55 Schüler angestiegen.“ Im Durchschnitt. „In
der Klasse meiner Tochter drängen sich über 60 Kinder“, sagt Deniz Özgür,
„und das ist keine Seltenheit“. An manchen Schulen wurden von 60 Lehrern 40
suspendiert.
Der Staat versucht nun, den Unterricht mit Ersatzlehrern aufrechtzuhalten,
die oft keine richtige pädagogische Ausbildung haben oder fachfremd
unterrichten. Diese Ersatzlehrer kommen gerade von der Universität oder
sind Uni-Absolventen, die jetzt ohne Erfahrung in einen Schuljob rutschen.
Trotzdem, sagt Hikmet Korkmaz, seien viele Unterrichtsstunden nicht
abgedeckt und gehen viele Kinder gar nicht mehr zur Schule.
## Protest bleibt aus
„Anfangs haben die Eltern protestiert“, erzählen die entlassenen Lehrer,
„doch die Polizei hat hart darauf reagiert. Wer sich an Demonstrationen vor
Schulen beteiligte, wurde festgenommen.“ Auch Demonstrationen von Lehrern
wurden mit Polizeigewalt beendet. „Jetzt traut sich niemand mehr auf die
Straße“, sagt Deniz Özgür.
Die Lehrergewerkschaft Eğitim Sen bringt das in ein großes Dilemma. Sollen
sie weiter protestieren oder lieber versuchen, möglichst viele ihrer
suspendierten Mitglieder wieder ins Amt zu bringen. „Der Staat testet
jetzt, wie sich die Leute verhalten“, sagt Hikmet Korkmaz. „Wir wollen
weiterhin Protestaktionen machen, doch den suspendierten Lehrern wird von
den Schuldirektoren gesagt, wenn sie sich ruhig verhalten, wenn sie den
Mund halten, werden sie in ein paar Monaten wiedereingestellt. Man will so
die Aktivisten herausfiltern.“
Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seiner AKP-Regierung geht es aber nicht
nur darum, einige Kritiker loszuwerden. Die Regierung nutzt die Phase nach
dem Putschversuch und den Ausnahmezustand, um ein Projekt voranzutreiben,
das ihr schon länger am Herzen liegt: „Wir wollen eine neue Generation
gläubiger Muslime erziehen“, hatte Erdoğan schon vor mehreren Jahren als
Maxime für die Bildungspolitik vorgegeben. Praktisch bedeutet das, die
Regierung versucht nach und nach das säkulare Bildungssystem durch ein
religiöses zu ersetzen.
## Als Alternative religiöse Schulen
Mittel zum Zweck sind die sogenannten Imam-Hatip-Schulen, religiöse
Schulen, die ursprünglich einmal dafür da waren, den Nachwuchs für Imame
auszubilden, und die nun mehr und mehr als flächendeckende Alternative zu
den normalen öffentlichen Schulen ausgebaut werden.
In Imam-Hatip-Schulen werden die Geschlechter getrennt und Mädchen müssen
Kopftuch tragen. Religiöse Fächer nehmen einen großen Stellenwert ein,
trotzdem erlaubt der Abschluss einer Imam-Hatip- Highschool den Besuch der
Universität. Laufend eröffnet die AKP neue Imam-Hatip-Schulen oder wandelt
existierende öffentliche Schulen in Imam-Hatip-Schulen um. So auch in
Diyarbakır.
„In den letzten zehn Jahren“, erzählt der Gewerkschafter Faisal Korkmaz,
„hat die Zahl der Imam-Hatip-Schulen in Diyarbakır dramatisch zugenommen.
Waren es früher ungefähr zwei Prozent der Schulen, sind es heute 40
Prozent“. Die meisten Eltern wollen ihre Kinder nicht dorthin schicken,
deshalb gibt es dort selbst heute, bei dem enormen Lehrermangel, Klassen,
in denen nur zehn Kinder sitzen. Deniz Özgür war bis zu seiner
Suspendierung als Lehrer für „Computer“ an einer Imam-Hatip-Schule
angestellt. „In meiner Klasse gab es nur sieben Kinder“, erzählt er.
Der künstliche Lehrermangel und die daraus resultierende Überfüllung der
normalen säkularen Schulen zwingt Eltern nach und nach, ihre Kinder doch
zur Imam-Hatip-Schule zu schicken. „In ein paar Jahren“, befürchtet Hikmet
Korkmaz, „werden sie das ganze Bildungssystem umgekrempelt haben.“
2 Nov 2016
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
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