| # taz.de -- Protest türkischer Studierender: Repression auf dem Campus | |
| > Eine neue Entlassungswelle in der Türkei überzieht die Universitäten. In | |
| > Ankara und Istanbul leisten Studierende erstmals Widerstand. | |
| Bild: Der Protest Studierender auf dem Cebeci Campus in Ankara wurde von der Po… | |
| Istanbul taz | Es sind Bilder, wie man sie an türkischen Universitäten | |
| schon länger nicht mehr gesehen hat. Laut protestierende Studenten und | |
| Professoren, die gemeinsam über den Campus marschieren, Versammlungen | |
| abhalten und Vorlesungen und Seminare boykottieren. Das Zentrum des | |
| Protests ist die staatliche Universität in Ankara. | |
| Auslöser ist die jüngste Entlassungswelle im öffentlichen Dienst, die | |
| letzte Woche erneut per Dekret angeordnet wurde. Dieses Mal hat es vor | |
| allem wissenschaftliche Mitarbeiter, Dozenten und Professoren verschiedener | |
| Universitäten getroffen. Mehr als die Hälfte unter ihnen sind Teil des | |
| Netzwerks „Akademiker für Frieden“, das sich 2016 mit einer Petition für | |
| ein Ende der Militäreinsätze in den kurdischen Gebieten einsetzte. | |
| Insgesamt wurden am Mittwoch vergangener Woche 4.464 Beamte gefeuert. Damit | |
| sind seit Beginn des Ausnahmezustands im Juli letzten Jahres weit mehr als | |
| 100.000 Angestellte und Beamte entlassen worden, mindestens die Hälfte | |
| davon sind Lehrer, Universitätsdozenten oder Professoren. Seit Verhängung | |
| des Ausnahmezustands infolge des gescheiterten Putsches vom 15. Juli 2016 | |
| kann der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan per Dekret | |
| regieren. Der bereits zweimal verlängerte Notstand gilt nach derzeitigem | |
| Stand bis zum 19. April. | |
| Die Wucht dieser Entlassungswellen und die allgemeine Repression im | |
| Ausnahmezustand waren so überwältigend, dass es zunächst kaum Widerstand | |
| gegen die Maßnahmen gab. Die Angst, als Putschunterstützer gebrandmarkt zu | |
| werden, verhinderte zumeist größere Protest- und Solidaritätsmaßnahmen. | |
| Lediglich im Osten des Landes, in Diyarbakır, gingen viele Leute auf die | |
| Straße, als auf einen Schlag zehntausende Lehrer in den kurdischen | |
| Provinzen ihren Job verloren und in etlichen Schulen daraufhin kaum noch | |
| ein normaler Unterricht stattfinden konnte. | |
| Von den nun gerade erst Entlassenen sind erneut mehr als die Hälfte Lehrer, | |
| Dozenten und Professoren. Besonders betroffen sind die | |
| sozialwissenschaftlichen und politischen Fakultäten der renommierten | |
| Ankara-Universität. Dort wurde so viel Lehrpersonal entlassen, dass die | |
| Lehrpläne auf ein Minimum reduziert werden mussten. Dabei gehören gerade | |
| diese Fakultäten zu den bekanntesten des Landes. Seit Jahrzehnten wurde | |
| hier der Nachwuchs für Ministerien und den diplomatischen Dienst | |
| ausgebildet. Viele der Betroffenen gehören überdies zu den Unterzeichnern | |
| einer Petition, mit der Anfang 2016 die Regierung aufgefordert worden war, | |
| den Krieg in den kurdischen Gebieten zu beenden und die abgebrochenen | |
| Friedensverhandlungen mit der kurdischen PKK-Guerilla wiederaufzunehmen. | |
| Etliche der Unterzeichner waren schon vor dem Putschversuch entlassen, | |
| einige sogar verhaftet worden. | |
| ## „Fass meinen Professor nicht an“ | |
| Doch was bislang mehr oder weniger hingenommen worden war, führte in Ankara | |
| nun erstmals zu kollektivem Widerstand. Die Studenten solidarisierten sich | |
| mit ihren Professoren und gingen auf die Straße. Am Montag besetzten sie | |
| ein Amphitheater auf dem Universitätsgelände und forderten die sofortige | |
| Wiedereinstellung ihrer Dozenten und Professoren. | |
| Am Dienstagmorgen kam es auch in Istanbul zu ersten Protestaktionen. An der | |
| staatlichen Marmara-Universität versammelten sich hunderte Studenten um | |
| ihrem Professor İbrahim Kaboğlu ein letztes Geleit zu geben. Als der | |
| bekannte Verfassungsrechtler, der in der Vergangenheit den | |
| Menschenrechtsausschuss des Parlaments beraten hat und auch als Kolumnist | |
| für die Zeitung Birgün tätig ist, noch einmal zur Universität kam, um sein | |
| Büro auszuräumen, wurde er von den Studenten mit Spruchbändern „Fass meinen | |
| Professor nicht an“ begrüßt. Aus Protest trat der Dekan der politischen | |
| Fakultät der Marmara-Universität, Ahmet Demirel, gestern von seinem Amt | |
| zurück. | |
| Doch die Universitätsleitungen sowohl in Istanbul wie auch in Ankara | |
| verweigern jedes Gespräch. Stattdessen rief der Rektor der Uni Ankara die | |
| Polizei auf das Gelände, die mit Schlagstöcken und Reizgas gegen die | |
| Demonstranten vorging. In dem Versuch, die Polizei zu stoppen, hatten die | |
| Professoren ihre Talare auf der Erde ausgebreitet, doch das hielt die | |
| Beamten nicht von ihrem Befehl ab. Die Talare wurden von der vorrückenden | |
| Polizei zertrampelt. Als die Regierung für den Polizeieinsatz kritisiert | |
| wurde, schob Regierungssprecher Numan Kurtulmuş die Verantwortung auf den | |
| Rektor der Universität ab. Auch die Liste der zu entlassenden | |
| Uni-Mitarbeiter sei nicht im Bildungsministerium, sondern vom Rektorat der | |
| Universität erstellt worden. | |
| Tatsächlich sind nach dem Putschversuch vom 15. Juli sämtliche Rektorate | |
| und Fakultätsleitungen an allen staatlichen Universitäten der Türkei neu | |
| mit engen Gefolgsleuten der AKP-Regierung besetzt worden. Das hatte bereits | |
| vor einigen Monaten zu ersten Protesten an der renommierten | |
| Bosporus-Universität in Istanbul geführt, wo eine bereits gerade neu | |
| gewählte Rektorin wieder abgesetzt und durch einen Erdoğan-Loyalisten | |
| ersetzt worden war. | |
| Diese neuen Führungskader „säubern“ nun die Universitäten im Sinne der | |
| Regierung. Dabei geht es längst nicht mehr darum, angebliche oder | |
| tatsächliche Anhänger der von Erdoğan für den Putschversuch verantwortlich | |
| gemachten islamischen Gülen-Bewegung zu entlassen, sondern der Fokus hat | |
| sich auf die kritische Masse säkularer Akademiker verlagert, die nicht | |
| bereit sind, die islamischen Bildungsinhalte von Erdoğans neuer Türkei zu | |
| übernehmen. | |
| Rechtlich haben die Betroffenen kaum Chancen, gegen ihre Entlassung | |
| vorzugehen. Das oberste türkische Verwaltungsgericht und das | |
| Verfassungsgericht verweigern die Annahme von Klagen wegen des | |
| Ausnahmezustands, und das Europäische Gericht für Menschenrechte in | |
| Straßburg will Klagen von Entlassenen nicht verhandeln, weil ja der | |
| türkische Rechtsweg noch nicht ausgeschöpft sei. Stattdessen hat die | |
| Regierung jetzt eine Kommission eingesetzt, bei der die Betroffenen ihren | |
| Fall vortragen können. Gewerkschafter der Lehrergewerkschaft Eğitim Sen | |
| vermuten, dass in dieser Kommission nun nach politischer Opportunität | |
| nachjustiert wird. Wer sich ruhig und devot verhalten hat, hat die Chance, | |
| wieder an seine Schule oder Universität zurückkehren zu können. | |
| 15 Feb 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Jürgen Gottschlich | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Türkei | |
| Recep Tayyip Erdoğan | |
| Schwerpunkt Protest in der Türkei | |
| Universität | |
| Studentenproteste | |
| Putsch | |
| Schwerpunkt Türkei | |
| Putschversuch Türkei | |
| Recep Tayyip Erdoğan | |
| Pressefreiheit in der Türkei | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Prozess gegen Putschisten in der Türkei: Die Nacht von Marmaris | |
| In Muğla stehen 38 Soldaten vor Gericht. Die Beteiligung am Putsch geben | |
| sie zu – doch mit der Gülen-Sekte wollen sie nichts zu tun haben. | |
| Erdogans „Säuberungen“ in der Türkei: Schulverbot für kritische LehrerIn… | |
| Die Massenentlassung vermeintlicher Regimegegner trifft auch LehrerInnen. | |
| In den kurdischen Gebieten herrscht deshalb Bildungsnotstand. | |
| Nach dem Putschversuch in der Türkei: 10.000 weitere Beamte entlassen | |
| Die jüngste Entlassungswelle trifft vor allem Polizisten und Akademiker. | |
| Derweil wurden 34.000 Häftlinge entlassen, um in den Knästen Platz zu | |
| machen. | |
| Überfüllte Gefängnisse in der Türkei: 38.000 Häftlinge bald auf freiem Fuß | |
| Erdogan ließ tausende „verdächtige“ Staatsbedienstete festnehmen. Weil die | |
| Gefängnisse nun voll sind, werden vor dem Putschversuch verurteilte | |
| Häftlinge entlassen. | |
| Nach dem Putschversuch in der Türkei: JournalistInnen festgenommen | |
| Es läuft eine Verhaftungswelle gegen JournalistInnen in der Türkei. Unter | |
| anderem wurden Nazli Ilicak und Bülent Mumay festgenommen. |