# taz.de -- Zensur in der Türkei: Redaktionen versiegelt und enteignet | |
> Aus den kurdischen Gebieten dürfen de facto keine Journalisten mehr | |
> berichten. Ein Medium nach dem anderen wird geschlossen. | |
Bild: Büropapagei Tolaz hat die Polizeirazzia in der Redaktion der Nachrichten… | |
In Diyarbakır stinkt es. Gammelig und stechend. Seit einer Woche wird der | |
Müll nicht abgeholt, Eltern fürchten sich, ihre Kinder auf die Straße zu | |
lassen. Sollten sie nämlich krank werden, gäbe es kein Krankenhaus, das sie | |
behandeln könnte. Fast alle sind geschlossen, die übrigen überfüllt. | |
Nur bekommt das keiner mit außerhalb dieser Stadt im Südosten der Türkei, | |
weil sechs Tage lang das Internet und Mobilnetz kaum funktionierte. Und | |
weil von dort de facto sowieso keine Journalist*innen mehr berichten | |
dürfen. | |
Beritan Canözer erzählt der taz von diesem Zustand, der auf die Proteste | |
gegen die Inhaftierung von Diyarbakırs beiden Bürgermeister*innen Firat | |
Anli und Gültan Kisanak folgte, am Telefon. Die 22-Jährige ist | |
Korrespondentin der ausschließlich von Frauen betriebenen | |
Nachrichtenagentur Jinha in Diyarbakır. „Jin“ ist kurdisch und bedeutet | |
„Frau“. Die Abkürzung HA steht für Haber Ajansı, türkisch für | |
Nachrichtenagentur. | |
Zum Weltfrauentag 2012 ging die Agentur an den Start, um aus den kurdischen | |
Gebieten zu berichten. Es waren Jinha-Korrespondentinnen, die als Erste in | |
Rojava eintrafen, nachdem dort das autonome kurdische Gebiet ausgerufen | |
worden war. | |
Nun wurde die Agentur von der türkischen Regierung geschlossen. Ebenso wie | |
die Nachrichtenagentur Diha, die Zeitung Azadiya Welat und etliche weitere | |
prokurdische Medien. | |
## Systematisches Vorgehen gegen die Medien | |
„Seitdem der Ausnahmezustand in der Türkei ausgerufen wurde, geht die | |
Regierung systematisch gegen Medien vor“, sagt Canözer. „Vorher wurden die | |
Journalist*innen einzeln verhaftet. Heute können Redaktionen aufgrund des | |
Notstandsgesetzes komplett dichtgemacht werden.“ | |
Jinha-Nachrichtenredakteurin Zehra Dogan etwa sitzt seit Juli in Haft. Sie | |
hatte sich wochenlang in Gebieten um Cizre und Nusaybin aufgehalten, die | |
aufgrund des blutigen Konflikts zwischen Regierung und der bewaffneten | |
kurdischen Arbeiterpartei PKK gesperrt worden waren. Trotz der Bomben, | |
trotz der täglichen Schießereien blieb Dogan und berichtete. Als sie lebend | |
wieder rauskam, wurde sie sofort festgenommen. | |
Canözer selbst saß auch schon in Untersuchungshaft – weil sie vor der | |
Kamera „zu aufgeregt“ war. Entmutigen ließ sie sich davon nicht. Obwohl das | |
Jinha-Agenturbüro von Sicherheitskräften geschlossen und das gesamte | |
Equipment enteignet wurde, berichten sie und ihre Kolleginnen weiter. Über | |
Facebook, über Twitter und über zwei der letzten Medien in Istanbul, die | |
prokurdische Meinungen publizieren und noch nicht geschlossen wurden: | |
Evrensel und Özgürlükçü Demokrasi. | |
Das Redaktionsbüro von Diha in Ankara wurde am Montagabend ebenso wie das | |
von Jinha durch Polizeikräfte durchsucht und gesperrt. Aufsehen erregte der | |
Fall in sozialen Medien vor allem, weil der zweisprachige Bürovogel Tolaz | |
noch in dem versiegelten Gebäude vermutet wurde. | |
Der zwei Jahre alte Grauhaarpapagei, der mehr als 70 Worte auf Türkisch und | |
Kurdisch spreche, wurde nun aber bei einem Nachbarn gefunden, erklärte ein | |
Diha-Sprecher. Die Polizei habe ihn nach der Razzia dort abgegeben. | |
Erfreulich, dass immerhin die Tierrechte noch respektiert werden. | |
2 Nov 2016 | |
## AUTOREN | |
Fatma Aydemir | |
## TAGS | |
Pressefreiheit in der Türkei | |
Proteste in der Türkei | |
Schwerpunkt Türkei | |
Kurdistan | |
Schwerpunkt Pressefreiheit | |
PKK | |
Recep Tayyip Erdoğan | |
Schwerpunkt taz Leipzig | |
EU-Türkei-Deal | |
Schwerpunkt Türkei | |
Diyarbakir | |
Cumhuriyet | |
Schwerpunkt Türkei | |
Cumhuriyet | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
PKK-Prozess in Berlin: In den Kellern von Cizre | |
Der HDP-Abgeordnete Faysal Sarıyıldız erhob in Berlin-Moabit schwere | |
Vorwürfe gegen die türkische Regierung. Er ist Zeuge in einem PKK-Prozess. | |
Reaktion auf Verhaftungen in der Türkei: „Wie während der Nazi-Herrschaft“ | |
Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn hat Wirtschaftssanktionen gegen die | |
Türkei ins Spiel gebracht. Deutschland sieht dazu derzeit keinen Anlass. | |
Regisseur über türkische Filmproduktion: „90 Prozent ist Dreck“ | |
Cem Kaya, Regisseur von „Remix, Remake, Rip-Off“, über Kopierkultur im | |
türkischen Kino, Zensur und die Qualität des Fernsehens. | |
Umstrittenes Flüchtlingsabkommen: Türkei droht der EU | |
Noch vor Ende des Jahres will Ankara den Deal aufkündigen, sollte die | |
Visafreiheit nicht umgesetzt werden. Die EU hatte sie unter Bedingungen | |
zugesichert. | |
Erdogans „Säuberungen“ in der Türkei: Schulverbot für kritische LehrerIn… | |
Die Massenentlassung vermeintlicher Regimegegner trifft auch LehrerInnen. | |
In den kurdischen Gebieten herrscht deshalb Bildungsnotstand. | |
Kurden in der Türkei: Staatlicher Verwalter für Diyarbakir | |
In Diyarbakir setzt die türkische Regierung einen Zwangsverwalter ein. Die | |
kurdischen Bürgermeister der Stadt wurden zuvor festgenommen. | |
Cumhuriyet-Kolumnist Hikmet Çetinkaya: Kolumnist und Legende in Haft | |
Der 75-jährige Hikmet Çetinkaya berichtet seit Jahrzehnten kritisch über | |
die Gülen-Bewegung. Nun sitzt er in Haft, weil er sie unterstützt haben | |
soll. | |
Kommentar Deutsch-türkische Diplomatie: Mehr Mut wagen! | |
Womöglich kann selbst die Bundeskanzlerin den Staatsumbau in der Türkei | |
nicht ändern. Dennoch wäre ein kritisches Zeichen wichtig. | |
Verhaftungswelle in der Türkei: „Cumhuriyet“ baut auf Solidarität | |
Auch nach der Festnahme von 13 Mitarbeitern macht das Traditionsblatt | |
weiter. Die Dienstagausgabe erscheint mit dem Titel „Wir geben nicht auf“. |