# taz.de -- Neuer Kulturpalast in Istanbul: Das Herz der Republik | |
> Der Istanbuler Taksim-Platz bekommt ein Kulturzentrum. Der Ort, wo 2013 | |
> ein Kulturkampf kulminierte, behauptet sich sich als säkulares Zentrum | |
> der Türkei. | |
Bild: Umkämpftes Zentrum Istanbuls – das neue Atatürk-Zentrum ist ein Kultu… | |
Mit einer eigens für den Anlass komponierten Oper, die dem historisch | |
wichtigsten Architekten Istanbuls, Mimar Sinan, gewidmet ist, wurde am | |
letzten Freitag das neue [1][große Atatürk-Kulturzentrum am Taksim-Platz] | |
in Istanbul eröffnet. Das Datum ist kein Zufall: Der 29. Oktober ist der | |
Nationalfeiertag zur Gründung der Republik, er jährte sich am Freitag zum | |
98. Mal. | |
Das Haus ist ein Kulturpalast, der einer 16-Millionen-Metropole würdig ist. | |
Neben dem Opernsaal für knapp 2.500 Zuschauer gibt es mehrere Kinos, | |
Bibliotheken, Cafés und Restaurants. Das Haus soll offen und zugänglich | |
sein und nahezu alle IstanbulerInnen sind sich einig: Es ist eine tolle | |
Bereicherung für die Stadt. | |
Tatsächlich ist der Bau viel mehr als ein Kulturzentrum. Er ist ein Symbol | |
für die republikanische Türkei und es ist ein kleines Wunder, dass es ihn | |
gibt. „Ohne uns“, sagte Mücella Yapıcı, die große alte Dame des | |
Taksim-Solidaritätsvereins, zur Eröffnung des Kulturpalastes „würde es das | |
neue Haus heute nicht geben.“ | |
„Wir haben 2013 auch für das Atatürk-Kulturzentrum gekämpft und einige | |
haben einen hohen Preis dafür gezahlt.“ Der Kampf, von dem Mücella Yapıcı | |
spricht, ist in die Geschichte als „Gezi-Proteste“ eingegangen. | |
## Im Sommer 2013 | |
[2][Damals, im Sommer 2013], hatten sich, angeführt vom | |
Taksim-Solidaritätsverein, eine zunächst kleine Gruppe von Anwohnern des | |
Taksim-Platzes dagegen zur Wehr gesetzt, dass ein kleiner Park, der direkt | |
an den Platz angrenzt, mit einer historisierten Kaserne bebaut werden | |
sollte, hinter deren Mauern dann ein Einkaufszentrum platziert würde. | |
Aus dem lokalen Protest, durch den zunächst lediglich verhindert werden | |
sollte, dass einige Bäume im Park abgeholzt werden, entwickelte sich | |
innerhalb weniger Wochen eine Protestbewegung, die Hunderttausende Menschen | |
auf die Straße brachte und fast in jeder Stadt in der Türkei ihre Spuren | |
hinterließ. | |
Dieser Aufstand, der die AKP-Regierung unter dem damaligen | |
Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan völlig überraschte, ist nur zu | |
erklären mit dem Symbolwert des Taksim-Platzes und dem schon damals | |
wichtigstem Gebäude, dem Atatürk-Kulturzentrum. | |
Wer das erste Mal den Taksim-Platz und den Gezi-Park besucht, ist in der | |
Regel enttäuscht. Umgeben von modernen Betongebäuden ohne jedes historische | |
Flair, bietet sich dem Betrachter ein riesiger Platz, der im Sommer keinen | |
Schatten und im Winter keinen Schutz vor dem eiskalten Wind bietet. | |
## Der wichtigste Platz Istanbuls | |
Auch der angrenzende Gezi-Park hat mit den zentralen Parks anderer | |
Weltstädte nichts gemein. Es ist kein Central Park wie in New York, kein | |
Hyde Park wie in London, und selbst der Tiergarten in Berlin ist eine große | |
grüne Lunge im Vergleich zu dem mickrigen, von Bäumen umstandenen Rasen, | |
den der Gezi-Park darstellt. | |
Dennoch, sagt Cem Tüzün, ein anderer Aktivist der ersten Stunde im Sommer | |
2013, „ist der Taksim-Platz und der angrenzende Gezi-Park für uns der | |
wichtigste Platz Istanbuls, ja das Herz der ganzen Türkei“. Dass diese | |
Meinung von vielen Menschen in der Türkei geteilt wird, war der Grund | |
dafür, dass aus einer kleinen lokalen Auseinandersetzung „um ein paar | |
Bäume“ der größte Konflikt in der fast 20-jährigen Amtszeit von Recep | |
Tayyip Erdoğan wurde. | |
Denn am Taksim-Platz kulminierte damals wie heute der entscheidende | |
Kulturkampf, der die Türkei seit ihrer Staatsgründung 1923 bis heute | |
bewegt: Soll das Land eine säkulare Republik oder ein postosmanischer | |
islamischer Staat sein. „Zu osmanischer Zeit stand eine große Kaserne auf | |
dem heutigen Platz“, versucht Can Atalay, einer der engagiertesten Anwälte | |
in dem Prozess gegen die Gezi-Aktivisten, die Bedeutung des Taksim | |
klarzumachen. | |
„Ausgerechnet von dieser Kaserne ging 1909 die Konterrevolution gegen die | |
Einführung der parlamentarischen Monarchie aus. Nach Gründung der Republik, | |
nachdem der letzte Sultan ins Exil geschickt und das Kalifat abgeschafft | |
worden war, wurde dann auch die Kaserne am Taksim-Platz geschleift. | |
Ausgerechnet diese Kaserne wollte Erdoğan wieder aufbauen.“ Das konnte nur | |
als Provokation verstanden werden, denn der Taksim-Platz war seit Gründung | |
der Republik zum zentralen Ort des modernen Istanbul geworden. | |
## Erdogan und die Oper | |
Ein Denkmal zur Republikgründung entstand, die ersten modernen Luxushotels | |
wurden hier gebaut, in den 60er Jahren kam das Atatürk-Kulturzentrum (AKM) | |
dazu, damals schon mit einer Oper als Ausdruck westlichen Kunstgenusses. | |
Was Erdoğan von der Oper hielt, machte er bereits in den ersten Jahren | |
seiner Regentschaft klar, als er ansonsten noch den demokratischen Reformer | |
gab: „Unsere Leute hören solche Musik nicht“, sagte er schon 2005, als sich | |
bauliche Mängel am AKM zeigten, die eine Sanierung erforderlich gemacht | |
hätten. | |
Sein damaliger Kulturminister plädierte deshalb schon 2005 für den Abriss | |
des AKM. Weil aber da schon viele Menschen dagegen protestierten und | |
Erdoğan noch an seiner liberalen Fassade arbeitete, wurde der Bau 2008 | |
einfach stillgelegt. Angebote bekannter Kulturmäzene, die Kosten für eine | |
Sanierung zu übernehmen, ignorierte die AKP-Regierung. | |
Während der Gezi-Proteste 2013 wurde der Bau dann besetzt und diente in den | |
rauschhaften Tagen des befreiten Taksim-Platzes als großer Treffpunkt. Als | |
nach zwei Wochen der großen Freiheit im Juli 2013 dann Spezialkräfte von | |
Polizei und Gendarmerie den Platz und den angrenzenden Park gewaltsam | |
räumten, wurde auch das AKM endgültig dichtgemacht. Dennoch zeigte der | |
Protest Wirkung. | |
Der Gezi-Park wurde belassen, von einem Einkaufszentrum im historischen | |
Gewand einer osmanischen Kaserne war keine Rede mehr. Die symbolische | |
Rückkehr zum Osmanischen Reich, die die Ideologen der AKP in vielen | |
Varianten predigen, war am Taksim-Platz gescheitert. Auch die Ruine des AKM | |
blieb noch weitere fünf Jahre stehen, Erdoğan wollte den Bau lieber nicht | |
antasten. | |
## Eine große Moschee | |
Stattdessen wählte er einen anderen Weg, um dem säkularen Zentrum der | |
Türkei seinen Stempel aufzudrücken. An der Südseite des Platzes, da, wo die | |
berühmte Fußgängerzone İstiklâl Caddesi beginnt, ließ er einige kleinere | |
Gebäude der Verkehrsverwaltung abreißen, um Platz für den Bau einer großen | |
Moschee zu schaffen. Bis dahin war das einzige sakrale Gebäude am Taksim | |
die griechische Hagia-Triada-Kirche, deren beide Türme die östliche | |
Silhouette des Platzes prägen. | |
Gleichzeitig kehrte auf dem Taksim-Platz eine bis heute andauernde | |
Friedhofsruhe ein. Der Platz, auf dem in früheren Zeiten jede | |
Großdemonstration in Istanbul mündete, ist jetzt für Protestveranstaltungen | |
tabu. Auch die Gewerkschaften dürfen ihre 1.-Mai-Kundgebungen nicht mehr | |
dort abhalten, obwohl sie es jedes Jahr wieder versuchen und dabei von der | |
Polizei regelmäßig verprügelt werden. | |
Umso erstaunlicher war, dass Erdoğan 2018 bekannt gab, dass die Ruine des | |
AKM abgerissen wird, um an gleicher Stelle ein neues Kulturzentrum zu | |
errichten. [3][Skeptiker, die zunächst glaubten, dass hier ein Fake-Bau | |
errichtet werden soll], wurden durch zwei Entscheidungen eines Besseren | |
belehrt. | |
Zum einen wurde bekannt gegeben, dass auch der neue Bau wieder den Namen | |
Atatürks und nicht den eines der diversen Sultane tragen sollte, die | |
Erdoğan ansonsten für seine Prestigeprojekte gewählt hatte, und zweitens | |
wurde als Architekt Murat Tabanlıoğlu berufen, ein renommierter Baumeister, | |
vor allem aber der Sohn von Hayati Tabanlıoğlu, dem Architekten des | |
ursprünglichen AKM. Und Murat Tabanlıoğlu ließ von Beginn an keinen Zweifel | |
daran, dass er eine moderne Version des Baus seines Vaters im Kopf hatte. | |
## Auf den zweiten Blick | |
Wer heute vor dem neuen AKM steht, sieht ein im schnörkellosen Bauhausstil | |
errichtetes Gebäude mit einer riesigen Glasfassade. Ein Gebäude, das auf | |
den ersten Blick stark an seinen Vorgänger erinnert. Erst auf den zweiten | |
Blick sieht man die Unterschiede. Der auffälligste ist eine fast die ganze | |
Höhe der Fassade ausfüllende rote Kugel im Innern, ein scheinbar | |
freischwebender Kubus, indem sich der Opernsaal befindet. | |
Von der Frontfassade aus nicht sichtbar, knickt der Bau L-Förmig ab und | |
bietet hier vielfältige Räume für Lesesäle, Cafés mit einer Terrasse, die | |
einen spektakulären Blick auf den Bosporus bietet. Dazu kommen eine große | |
Bibliothek, Theater und Kinosäle, kurz: ein Haus, das alle Ansprüche eines | |
anspruchsvollen Kulturpublikums erfüllen kann. Zwar bestimmt heute mehr | |
oder weniger direkt Erdoğans Kulturministerium, was im AKM gespielt wird, | |
aber das muss ja nicht auf Dauer so bleiben. | |
„Für uns“, sagt Mücelle Yapıcı, die im Moment gemeinsam mit Osman Kavala | |
und 50 weiteren Kämpfern für den Taksim-Platz zum vierten Mal wegen ihres | |
Engagements vor Gericht steht, „für uns ist erst einmal wichtig, dass das | |
Atatürk-Kultur Zentrum wieder neu aufgebaut wurde, trotz des Ressentiments | |
Erdoğans und seiner AKP der republikanischen Tradition gegenüber.“ | |
So ist der Taksim-Platz nun zu einem Mix der Ansprüche und Traditionen | |
geworden. Auf der einen Seite das neue AKM, ihm gegenüber Erdoğans im Mai | |
dieses Jahres neu eröffnete Moschee. Neben dem AKM bleibt der Gezi-Park | |
erhalten und östlich der Moschee steht weiterhin die byzantinische Kirche | |
der Heiligen Dreifaltigkeit. | |
3 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://akmistanbul.gov.tr/ | |
[2] /Proteste-in-der-Tuerkei/!5063295 | |
[3] /Opernbau-in-Istanbul/!5462067 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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