# taz.de -- Michael Dreyer über syrische Musik: „Wir wollen kein Mitleid“ | |
> Das Elbphilharmonie-Festival „Salam Syria“ versucht, das europäische und | |
> das arabische Tonsystem sowie die beiden verschiedenen Musizierhaltungen | |
> zu verbinden | |
Bild: Vereint Jazz-Elemente mit klassisch arabischen Formen: Residenzkünstler … | |
taz: Herr Dreyer, ist „Salam Syria“ nicht ein opportunistisches, der | |
„Flüchtlingskrise“ geschuldetes „Gutmenschen“-Festival? | |
Michael Dreyer: Nein. Natürlich gibt es derzeit, wo die menschliche | |
Situation in Syrien eine totale Katastrophe ist, eine besondere | |
Aufmerksamkeit für diese Kultur. Das allein wäre für mich aber kein Grund, | |
ein solches Festival zu kuratieren. | |
Sondern? | |
Ich halte es auch gesellschaftspolitisch und künstlerisch für wichtig, dass | |
wir uns ernsthaft mit der Kultur dieser Region befassen. Die vielen | |
arabischen Musiker, die jetzt nach Europa gekommen sind, stellen eine | |
enorme Bereicherung für das musikalische Leben dar. Das Festival „Salam | |
Syria“ soll das forcieren und einen Dialog auf Augenhöhe erlauben, der | |
hochkarätige Musik generiert. Wir wollen keine „Gutmenschen“, wir wollen | |
kein Mitleid. Nach dem Konzert sollen die Leute nicht denken: „Die armen | |
Syrer“. Sondern: „Das war toll!“ | |
Was macht originär syrische Musik eigentlich aus? | |
Eine typisch syrische Musik gibt es letztlich nicht, denn diese Gegend ist | |
immer ein Schmelztiegel der Kulturen gewesen. Gerade in Syriens Norden | |
zwischen Euphrat und Tigris – für uns Mesopotamien, für die Araber | |
al-Dschasira – trafen armenische, kurdische, jesidische, assyrische und | |
uralte Beduinenkulturen aufeinander. | |
Der Armenier Ibrahim Keivo, dessen Familie 1915 aus der Türkei nach Syrien | |
floh, singt am „Ancient Syria“-Abend sogar Lieder auf Aramäisch, der | |
Sprache Jesu. | |
Ja, denn in diesem nordöstlichen Dreiländereck Irak-Türkei-Syrien, wo er in | |
einem jesidisch-kurdischen Dorf aufwuchs, gibt es eine uralte | |
multiethnische und -religiöse Musiktradition. Und ich kenne niemanden, der | |
diese Vielfalt so überzeugend präsentiert und lebt wie Ibrahim Keivo. Er | |
ist über Jahre durch die Dörfer gereist und hat Lieder von Menschen | |
gesammelt – egal, aus welchem ethnischen, sprachlichen oder religiösen | |
Kontext sie stammten. | |
Aber ist das, was er singt, nicht exotistische Folklore? | |
Sie können sich nicht vorstellen, wie viele Wochen ich mir vor so einem | |
Festival den Kopf zerbreche, um etwas zu zeigen, das eben nicht exotistisch | |
ist und eine stimmige Musik in dieser Zeit in dieser Gesellschaft sein | |
kann. Gelingen kann das, wenn man die richtigen Akteure findet und | |
zusammenbringt – etwa den Hamburger Komponisten und Arrangeur Wolf Kerschek | |
und die syrische Sängerin Dima Orsho, damit sie zusammen etwas schaffen, | |
das einen eigenen musikalischen Wert hat. | |
Und das nicht dem westlichen 19.-Jahrhundert-Orient-Klischee entspricht. | |
Das versuche ich immer zu vermeiden. Witzigerweise kommen die | |
exotistischsten, „orientalistischen“ Musikvorschläge in der Regel weniger | |
von hier, sondern aus der Region selbst. Wenn die Musiker dann aufgrund der | |
engen Russland-Kontakte während des Kalten Krieges noch durch die | |
„russische Schule“ gegangen sind, entsteht schnell ein für unseren | |
Geschmack heikler Mix aus russischer 19.-Jahrhundert-Musik und | |
Orient-Kitsch. Ibrahim Keivo präsentiert genau das nicht. Abgesehen davon: | |
Bei solch einem Festival genügt es nicht, Zeitgenossen zusammenzubringen. | |
Man muss auch die pure Musiktradition dieses Landes zeigen, um zu spüren: | |
Wie klingt das Original? | |
Wobei arabische Musiker stets Mini-Tonabstände wie Vierteltönen verwenden, | |
Europäer aber nur Halbtöne. Erschwert das nicht den europäisch-arabischen | |
Musikdialog? | |
Das ist einer der derzeit spannendsten musikalischen Prozesse. Denn in der | |
Tat gehen diese beiden Tonsysteme – das arabische Maqam und die europäische | |
Diatonik – schwer zusammen. Gut funktioniert der Dialog in der Alten Musik, | |
also vor der „wohltemperierten Stimmung“ der Instrumente, als es diese | |
feineren Tonabstände auch in Europa noch gab. | |
Und wie vereint man die konträren Musizierhaltungen? Die mündliche | |
arabische und die schriftliche europäische? | |
Das funktioniert sehr gut im Jazz, wo alle auf offenes Hören und | |
Improvisation geeicht sind; daher der Festival-Eröffnungsdialog von | |
NDR-Bigband und Syrian Bigband, der ersten Bigband des arabischen Raums. In | |
der klassischen Orchestermusik ist das schon schwieriger. Komponisten haben | |
mehrfach versucht, europäisches Orchester und arabischen Gesang zu | |
vereinen. Ob das erfolgreich war, muss jeder für sich entscheiden. Ich | |
finde es oft heikel. | |
Ist die Osmose wenigstens beim syrisch-deutschen Festival-Projektchor | |
gelungen? | |
Ich glaube schon. Wir haben zwei Arrangeure – einen in Deutschland | |
musikalisch ausgebildeten Musiker und einen Komponisten, der in Syrien | |
studiert hat. Sie haben eng zusammengearbeitet. Im Ergebnis wird in beiden | |
Tonsprachen gesungen. | |
Wem fiel die Umstellung leichter? | |
Den Syrern. Arabische Musiker haben in der Regel kein Problem, | |
diatonisch-europäisch zu singen. Europäern dagegen fällt es extrem schwer, | |
Maqam zu singen, weil es die viel schwierigere, komplexere Tonsprache ist. | |
Begleitet wird dieser Chor-Auftritt von Mitgliedern des Syrian Expat | |
Philharmonic Orchestra, das 2015 in Bremen entstand. Sind wir da doch | |
wieder bei den „armen Flüchtlingen“? | |
Nein. Expats sind gefragte Fachleute. Experten, die eben im Ausland | |
arbeiten. Und ja, die meisten Orchestermitglieder sind vor dem 2011 | |
ausgebrochenen Bürgerkrieg geflüchtet, einige haben in Europa studiert, | |
viele sind 2015 eingereist. Ich glaube, dass sie sich bewusst „Expats“ | |
nennen, um ihre Kompetenz nicht durch Mitleid zu unterhöhlen. | |
Auch die übrigen geladenen Musiker haben fast alle eine Fluchtbiografie. | |
Denn während Syrien bis vor wenigen Jahren selbst irakische, | |
palästinensische, armenische Flüchtlinge aufnahm, fliehen die Syrer | |
inzwischen selbst. Ist Syrien als Fluchtziel und -ursache ein roter Faden | |
des Festivals? | |
Leider hat diese Region unendlich viel Leid und Flucht erleben müssen und | |
tut es bis jetzt. Die 106 Kilometer lange Straße zwischen Beirut und | |
Damaskus veranschaulicht das sehr gut. Als ich 2007 in Damaskus war, kamen | |
dort Busladungen mit Menschen an, die aus Libanon vor dem Krieg von | |
Hisbollah und Israel geflohen waren. Später gingen sie zurück und jetzt | |
fliehen auf dieser Route Tausende Syrer nach Libanon. Diese Straße sieht | |
nun seit Jahrzehnten Flüchtlinge in beiden Richtungen verkehren. | |
5 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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