| # taz.de -- Syrien trifft Hamburg: Der Krieg schwingt immer mit | |
| > Das Elbphilharmonie-Festival „Salam Syria“ präsentiert hoch | |
| > professionelle Musik, arrangiert zu einem genialen interkulturellen | |
| > Dialog. | |
| Bild: Kinan Azmeh organisiert auch Benefizkonzert für Flüchtlinge | |
| HAMBURG taz | Eigentlich will man im Konzert nicht weinen. Aber dann tut | |
| man es doch, wenn der deutsch-syrische Projektchor auf der | |
| Elbphilharmonie-Bühne steht und arabische Lieder singt. Die rund 60 | |
| Flüchtlinge und Einheimischen haben sich für das Festival „Salam Syria“ | |
| zusammengetan und seit Oktober geprobt: arabische Weisen mit Achtel- und | |
| Sechzehntel-Tonabständen, was den Deutschen anfangs schwerfiel. Ein schöner | |
| Rollenwechsel, sind es hier mal die Flüchtlinge, die mehr können, der | |
| Anpassungsdruck des Alltags wird aufgehoben. | |
| Warum man an dem Abend weint? Weil von der Heimat dieser Leute nur Lieder | |
| blieben. Weil sie Kulturbotschafter wider willen sind, ihr Exil ein | |
| fremdbestimmtes. Und weil sie tief fielen, zu No-Names in engen | |
| Unterkünften wurden und jetzt als Star auf der Bühne stehen. | |
| „Syrien trifft Hamburg“ war der Abend übertitelt, der zweite von drei | |
| Festivaltagen, einer freundlichen Übernahme der Elbphilharmonie durch neue | |
| Klänge. Wer allerdings gedacht, gefürchtet, gar gewünscht hatte, vor allem | |
| arabische Exotismen zu hören, irrte. Profimusiker des einstigen Syrian | |
| National Symphony Orchestra saßen zwischen Hamburger | |
| Musikhochschulstudenten. Gemeinsam spielten sie arabische wie europäische | |
| Klassik und Moderne, als sei es kinderleicht. | |
| Das war kein pseudofreundliches Nebeneinander, sondern eine echte | |
| Kooperation mit blitzschnellen Intonations- und Stimmungswechseln: Im | |
| arabischen Teil spielten alle einen Achtelton tiefer, und man dachte kurz, | |
| das klingt aber schief. Bis man merkte: Das ist die arabische Intonation, | |
| weit komplexer übrigens als die europäische. Und man begriff: Dies ist | |
| Kulturtransfer vom Feinsten, gerade aus der Kombination verschiedener | |
| Hörgewohnheiten kann Neues wachsen. Die Vorstellung von „richtig“ und | |
| „falsch“ gehört auf den Prüfstand. | |
| Und die eurozentristische Überheblichkeit gleich mit. Denn Damaskus galt | |
| bis 2011 als Schmelztiegel der Region, war 2008 Kulturhauptstadt der | |
| arabischen Welt. Trotzdem begann der Exodus syrischer Musiker lange vor | |
| 2015. Seit etlichen Jahren leben die Solisten des „Salam Syria“-Festivals | |
| in den USA, wo sie ursprünglich nur studieren wollten: Klarinettist Kinan | |
| Azmeh reiste aus New York an, die Sopranistin Dima Orsho aus Chicago. Beide | |
| sind für Klassik ausgebildet; die arabische Musik haben sie in den | |
| 2000er-Jahren im Exil entdeckt und touren seither oft gemeinsam. | |
| ## Tänzeln wie ein Jazzer | |
| Für den „Syrien trifft Hamburg“-Abend hat Klarinettist Azmeh eine Suite f�… | |
| Orchester und einen improvisierenden Solisten geschrieben. Das ist | |
| natürlich er, sein Spiel wirkt ganz und gar nicht improvisiert, und genauso | |
| will er es haben. | |
| Auch steht Azmeh nicht, wie viele europäische Solisten, regungslos vorm | |
| Publikum, sondern tänzelt, einem Jazzer gleich, vor dem Orchester her. | |
| Schaut mal schelmisch, mal ernst und erzeugt auf der flüsternden, | |
| singenden, schnarrenden Klarinette die passenden Geräusche. Azmeh ist, wie | |
| der jüdische Klarinettist Giora Feidman, ein Geschichtenerzähler und bewegt | |
| sich, als sei das hier ein Pub und kein Saal mit 2.100 Zuhörern. | |
| Überhaupt ist das ein Abend der Bewegung. Ein unkonventioneller Event, der | |
| der Elbphilharmonie für ein paar Stunden den Ruch des Großbürgerlichen | |
| nimmt. Denn erstens sind viele – durch „Konzertpaten“ kostenlos in die | |
| Elbphilharmonie gebrachte – Flüchtlinge im Publikum, das erstmals wirklich | |
| weltoffen wirkt. | |
| Zweitens sprengt das Konzert auch organisatorisch ein bisschen den Rahmen. | |
| Es beginnt einen Hauch zu spät, ist etwas wuseliger und emotionaler. Das | |
| ist ein Quentchen nur, ein Symbol, die Regeln des Konzertbetriebs werden | |
| angetippt, nicht bockig gebrochen, alles bleibt professionell. Denn man | |
| will keine Konfrontation, sondern einen Gruß von einem anderen Ort der | |
| Welt. Hier wird ein blinder Fleck, eine Wissenslücke gefüllt, hier ist mal | |
| Syrien zu Haus und der Hamburger fremd. | |
| ## Trauer am Euphrat | |
| Dabei sind Geschichte und Gegenwart immer verwoben. „Die Vergessenen von | |
| den Ufern des Euphrat“ heißt ein Stück von Dima Orsho, das an die uralte | |
| Stadt Deir Al Zour am Euphrat erinnert, einen Fixpunkt des syrischen | |
| Kollektivgedächtnisses. Die beklagte Stadt ist uralt, aber die Trauer über | |
| den aktuellen Krieg überträgt sich sofort; mehr Empathie können auch Worte | |
| nicht generieren. | |
| Sacht und melancholisch beginnt das Orchester, quasi die Leinwand fürs | |
| Gemälde. Folgt von einer linken Empore ein Sänger, der Bass Kai Wessel. | |
| Dann singt er höher, wird Tenor, wird Altus. Da übernimmt auf der rechten | |
| Empore Dima Orsho steigt vom Sopran herab zum Alt. Ein genialer | |
| interkultureller Transgenderdialog, diesmal nicht auf Augen-, sondern auf | |
| Tonhöhe. | |
| Fehlt noch die Physis. Sängerin und Sänger steigen zur Bühne ab, treffen | |
| sich, lesen Brecht’sche Antikriegstexte auf Deutsch und Arabisch. Und weil | |
| das immer noch nicht reicht, weil auch noch der Link zwischen Instrument | |
| und Stimme geschehen muss: Darum tritt Klarinettist Azmeh hinzu, übernimmt | |
| die Tonhöhe der Singenden, lässt Klarinette wie Stimme klingen und macht | |
| das Trio perfekt. | |
| Da stehen die drei, lachen, wandern, erzählen sich was, und der Chor steht | |
| wie in einer klassischen griechischen Tragödie hinten und schaut und atmet | |
| den verlassenen Krieg. Und so sehr man sich bemüht: Man schafft es nicht zu | |
| vergessen, dass viele dieser Menschen in Unterkünften lebten oder noch | |
| leben; eine Ambivalenz, die den Abend so berührend macht. | |
| ## Nicht endgültig angekommen | |
| Denn außer den Solisten ist fast keiner der syrischen Mitwirkenden | |
| endgültig angekommen. Die Orchestermitglieder etwa entstammen dem Syrian | |
| Expat Philharmonic Orchestra (SEPO), das der Kontrabassist Raed Jazbeh 2015 | |
| nach seiner Flucht in Bremen gründete. Über Facebook suchte er europaweit | |
| Kollegen zusammen, die inzwischen international touren. | |
| Wichtig dabei: „Expat“ bedeutet „im Ausland arbeitende Fachkraft“, und … | |
| solche Fachkräfte wollen die Musiker verstanden werden. Als weltläufige | |
| Profis, die internationale Klassik spielen und doch ihre Identität wahren. | |
| Das bedeutet zum Beispiel, dass sich in Azmehs Orchester-Suite arabische | |
| Rhythmusinstrumente wie die Darbuka mischen. Und zwar nicht als Folklore, | |
| sondern als gleichberechtigter Part. | |
| Wieder stockt man leicht, besinnt sich und begreift: Da gibt es keine | |
| Hierarchie. Die Komponistin Sofia Gubaidulina etwa integriert seit Jahren | |
| Volksmusikinstrumente in ihre Orchesterparts. Und haben sich nicht Europas | |
| Komponisten des 19. Jahrhundert intensiv bei der Volksmusik bedient? | |
| Genau, Enthierarchisierung und Durchlässigkeit sind die Themen. Diese Art | |
| von Osmose will man an so einem Abend, der ausnahmsweise mal die kulturelle | |
| Facette der Flucht zeigt. Und das Konzept geht auf: Das ist kein | |
| Mitleidsabend in kolonialistisch-gönnerhaftem Gutmenschenduktus. Sondern | |
| zwei Stunden hochkarätiger, mitreißender Kultur. | |
| 21 Mar 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
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