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# taz.de -- Preis der Leipziger Buchmesse 2017: Eine Epoche in einer Person ges…
> Beim 13. Preis der Leipziger Buchmesse gab es in den einzelnen Kategorien
> ausschließlich Preisträgerinnen.
Bild: Preisträgerinnen: Eva Lüdi Kong, Barbara Stollberg-Rilinger und Natasch…
Eines stimmt schon mal: die Frauenquote. Natascha Wodin, Barbara
Stollberg-Rilinger und Eva Lüdi Kong haben den 13. Preis der Leipziger
Buchmesse erhalten. Eva Lüdi Kong hat sich viele Jahre mit der Übertragung
des populärsten Werks der chinesischen Literatur beschäftigt und, wie die
Jury lobte, durch einen umfangreichen Apparat „den Kosmos der chinesischen
Kultur zugänglich gemacht“. Rund vierhundert Jahre alt ist die überlieferte
Fassung der „Reise in den Westen“. Das Buch, dessen Autor unbekannt ist,
erzählt von vier Pilgern, die auf Geheiß des Kaisers gen Westen reisen, um
Buddha zu huldigen.
In der Kategorie Belletristik war erneut ein Lyriker unter den Nominierten.
Steffen Popp hat über den Traum, die Stunde, die Libelle, aber auch über
„oh“ und „ach“ und anderes 118 Gedichte geschrieben. Drei Romane wurden
ausgewählt: In Anne Webers Roman „Kirio“ über einen Wunder vollbringenden
Narren ist die faszinierendste Figur der mysteriöse Erzähler selbst.
Brigitte Kronauer erzählt in „Der Sheik von Aachen“ die Geschichte zweier
Frauen, Tante und Nichte, deren Leben von zwei abwesenden Männern geprägt
ist, einem toten Sohn und einem ferne Berge besteigenden Liebhaber. Lukas
Bärfuss entreißt in „Hagard“ einen Immobilienentwickler der Permanenz des
Gesellschaftlichen ins Hier und Jetzt – nicht der Ekstase, sondern der
Jagd: Er gibt alles auf, um sich der Verfolgung eines willkürlich gewählten
Objekts der Begierde zu widmen.
## Das Gespinst des Sozialen
Es sind allesamt kluge Autorinnen, die Ohren haben für die assoziativen
Echoräume und den Rhythmus der deutschen Sprache, Antennen für das Gespinst
des Sozialen und last, but not least, einen mal heiteren, mal finsteren
Humor. Sie erzählen vom Ewig- und – die eine mehr, die andere weniger – vom
ganz Gegenwärtig-Menschlichen.
Natascha Wodin hat schließlich den Preis für „Sie kam aus Mariupol“
erhalten. Ihr Text ist ausdrücklich kein Roman, er handelt von ihrer
Mutter, die „in den Reißwolf zweier Diktaturen geraten“ war, des
Stalinismus und des Nationalsozialismus. 1944 wurde Jewgenia aus der
Ukraine als Zwangsarbeiterin in ein Leipziger Montagewerk für
Kriegsflugzeuge des Flick-Konzerns verschleppt. 1945 wurde ihre Tochter
geboren. Als diese 10 Jahre alt ist, nimmt die Mutter sich das Leben.
„Sie kam aus Mariupol“ erzählt von der Kindheit der Autorin, dem Kind, das
den Klassenkameraden, den „kleinen Rächern des untergegangenen Dritten
Reiches“, als Verkörperung des barbarischen Bolschewisten erscheint. Vom
Schicksal Tante Lidias in der Sowjetunion, vom Schweigen des Vaters in
Deutschland, vor allem aber von der Rekonstruktion der Familienerzählung.
## Casanova und die Religion
In der Kategorie Sachbuch überraschte die Jury mit Maria Theresia, die im
Mai ihren 300. Geburtstag feiert. Sie machte die Kartoffel populär und Sex
zur öffentlichen Angelegenheit. Prostituierten ließ sie den Kopf mit Teer
bestreichen, sodass Casanova sehr nachvollziehbar wünschte: „Wenn auch nach
den Wahrheiten unserer Religion die große Maria Theresia in das eingeht,
was man Ewigkeit oder jenseitiges Leben nennt, muss sie verdammt werden.“
20.000 Juden aus Prag und ganz Böhmen ließ Maria Theresia innerhalb nur
weniger Monate ausweisen, Zeitgenossen wunderten sich über ihre
Unerbittlichkeit. Man könnte diese Frau also gerne vergessen. Doch zu ihrem
300. Geburtstag ersteht sie auf, allüberall. Und wie man weiß: Jubiläen
brauchen positive Mythen.
Die große französische Feministin Elisabeth Badinter präsentiert sie in
ihrer neuen Biografie als „Frau der Moderne“, als eine, die Gatte, Status
und Kinder unter einen Hut bringen muss. Maria Theresia als Role Model? Man
sucht Anschlüsse an die Gegenwart oder möchte wenigstens – wie es die Jury
des Leipziger Buchpreises formulierte – die ganze Epoche in einer Person
gespiegelt sehen.
## Wo ist das politische Sachbuch zur Gegenwart?
Gibt es nicht Drängenderes, wo ist das politische Sachbuch zur Gegenwart?
Volker Weiß’ Buch über „Die autoritäre Revolte“, die neuen und die alt…
Rechten, hätten viele gern als Sieger gesehen. Es ist unbedingt zu
empfehlen – auch weil der Autor auf die blinden Flecke vieler Linker
hinweist, darauf etwa, wie sie den ultrakonservativen Kern des politischen
Islam verkannt haben.
Gewonnen hat den Preis in der Kategorie Sachbuch jedoch die Historikerin
Barbara Stollberg-Rilinger. Auch ihre mehr als 1.000 Seiten lange Biografie
widmet sich der Herrscherin: „Maria Theresia. Die Kaiserin in ihrer Zeit“.
Die Preisträgerin fand in ihrer Dankesrede erstaunlich, dass man sich
wieder für das 18. Jahrhundert interessiert.
Aber: Ihre Biografie ist wahnsinnig gut. Sie ist klug, quellenreich und
wunderbar postheroisch. Stollberg-Rilinger gelingt es, sich „die Heldin
vom Leibe zu halten“. Sie analysiert alte und neuere Mythen um die
Kaiserin, untersucht deren neuen Modus des Regierens, das Regieren „als
persönliche Aufgabe“, und legt dar, wie die Rede von der Ausnahmefrau die
Geschlechterhierarchie nicht beseitigt, sondern zementiert.
## Sozialer Kitt
Dass der Mythos Maria Theresia lange nach ihrem Tod im 19. Jahrhundert noch
einmal als sozialer Kitt diente oder dass die bürgerliche
Geschlechterordnung Frauen viel rigoroser aus dem Politischen ausschloss
als der Adel im Ancien Régime, all das schlüsselt die Biografin
eindrucksvoll auf.
Am Ende der Preisverleihung stand eine merkwürdige Diskrepanz: die grob
gestrickte Gegenwartskritik in der Eröffnungsrede der Juryvorsitzenden
Kristina Maidt-Zinke. Dieser Wille zum politischen Zeitgeschehen spiegelte
sich freilich in den ausgezeichneten Büchern nicht wider.
27 Mar 2017
## AUTOREN
Tania Martini
Ulrich Gutmair
## TAGS
Literatur
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024
Ukraine
Sven Regener
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Schwerpunkt Rassismus
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als Zwangsarbeiterin nach Deutschland verschleppt.
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