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# taz.de -- Neues Buch von Natascha Wodin: Das Schweigen Jewgenias
> „Sie kam aus Mariupol“ ist eine Spurensuche nach Wodins Mutter. Sie wurde
> als Zwangsarbeiterin nach Deutschland verschleppt.
Bild: Die Schriftstellerin Natascha Wodin erzählt die Geschichte ukrainischer …
Sie könne gar nichts erfinden, sagte Natascha Wodin einmal über ihr
Schreiben. Tatsächlich sind die Bücher der 1945 geborenen Schriftstellerin
immer autobiografisch grundiert. Doch Wodin unterläuft die Gefahr zäher
Selbstbespiegelung, peinlicher Indiskretionen mittels sprachlicher
Genauigkeit und literarischer Gestaltung der Motive, sie fiktionalisiert
ihre Erinnerungen absichtsvoll.
In ihrem neuen Buch „Sie kam aus Mariupol“ geschieht etwas anderes: Wodin
begibt sich auf Spurensuche nach ihrer Mutter. Hier geht es darum, so nah
wie möglich an die wahren Begebenheiten heranzukommen. Sie kann auf ihre
Imaginationskraft nicht verzichten, aber ihr Ansatz ist ein ganz und gar
(auto-)biografischer. Zugleich aber ist ihr ein Zeugnis gelungen, das weit
über die persönliche Geschichte ihrer Mutter – und ihrer eigenen Herkunft �…
hinausgeht.
Natascha Wodin ist die Tochter einer ukrainischen Zwangsarbeiterin, eine
von vielen Millionen Menschen, die von den Nationalsozialisten nach
Deutschland deportiert wurden. Indem sie ihre Mutter aus der Anonymität
herausholt, macht sie ein Schicksal sichtbar, das auf ähnliche Weise viele
getroffen hat; und über das es so gut wie keine literarischen Zeugnisse
gibt: „Die Überlebenden der Konzentrationslager hatten Weltliteratur
hervorgebracht, Bücher über den Holocaust füllten Bibliotheken, aber die
nichtjüdischen Zwangsarbeiter, die die Vernichtung durch Arbeit überlebt
hatten, schwiegen.“
Wodin schließt diese literarische Lücke. Ihr Buch wurde für den Preis der
Leipziger Buchmesse nominiert. Möglich ist das erfreulicherweise, weil die
Belletristik hier das „gesamte Spektrum der Literatur“ umfasst, denn um
einen Roman handelt es sich nicht. Eine „Art Tatsachenbericht mit
fiktionalen wie dokumentarischen Elementen“, nannte es Sigrid Löffler in
ihrer Laudatio zum Alfred-Döblin-Preis, den Wodin für das Manuskript
bereits 2015 erhielt.
## Irgendein Kehricht aus dem Krieg
Es ist aber viel mehr als ein Tatsachenbericht, weil die feine Sprache
Wodins bei aller Klarheit nicht die Kühle eines Berichts verbreitet; weil
ihre Art, wie sie Fakten mit ihrer Imagination und Einfühlung in die Mutter
und andere Angehörige verbindet, um den nahen Blick auf jeden und jede
Einzelne bemüht ist.
Diese grundlegende Verbindung gestaltet Wodin in vielen Tonlagen, die von
zärtlicher Nähe bis zu sachlicher Schilderung reichen. Die Schriftstellerin
wusste lange Zeit nicht, dass sie das Kind von ZwangsarbeiterInnen ist,
sondern nur, „dass ich zu einer Art Menschenunrat gehörte, zu irgendeinem
Kehricht, der vom Krieg übrig geblieben war“.
Die Eltern blieben als Displaced Persons in Deutschland. Stalin sieht in
ihnen „Vaterlandsverräter“, denen bei ihrer Rückkehr mindestens soziale
Ächtung droht. Die Mutter beging 1956 im Alter von 36 Jahren Selbstmord, da
war Wodin zehn Jahre alt. Nie hatte sie über ihr Leben vor dem Krieg
gesprochen. Wodins Antrieb, über ihre Mutter zu schreiben, ist zuerst ein
tief persönlicher.
Was sich im ersten des in vier Teile gegliederten Buchs entfaltet, ist eine
ganz unwahrscheinliche Entdeckungsreise. Ohne das Internet wäre sie
unmöglich gewesen. Die Autorin erfährt, dass ihre Mutter Jewgenia einer
adligen Familie aus Mariupol entstammt. Wodin nähert sich der Mutter über
deren Angehörige: Großeltern, Eltern und Geschwister Jewgenias tauchen auf.
Jedes gefundene Puzzleteil offenbart die Leerstellen drum herum.
## Familie voller politischer Widersprüche
Hier setzt die Vorstellungskraft der Autorin ein. Auch mittels Fragen, die
halbe Seiten füllen, um sich konkrete Bilder machen zu können – in dem
Wissen, es nicht zu wissen. Wodin erschafft so eine erzählerische,
sogartige Dichte. Dazu tragen außerdem die gewonnenen Kenntnisse selbst
bei: Die Familie steckt voller politischer Widersprüche. So wurde Jewgenias
Vater für seinen Kampf mit den Bolschewiki unter dem Zaren verbannt,
heiratete aber später ihre Mutter, eine Adlige; revolutionären Ideen hing
er weiterhin an. Eine Fülle von „Liebes-, Hass- und Wahnsinnsgeschichten“
bricht über die Autorin herein.
Der zweite Teil basiert auf den Aufzeichnungen von Wodins Tante Lidia. In
deren Nacherzählung durch Wodin wird ihre eigenwillige Persönlichkeit
greifbar. Es folgt die Zeit der Mutter als „Ostarbeiter“ beim
Flick-Konzern. Hier bleiben der Tochter nur die historischen Kenntnisse, in
die sie die Mutter in erzählerischen Passagen hineinimaginiert, etwa wenn
sie sich ihr Aufwachen oder eine Begegnung mit ihrem Mann vorstellt. Sie
wechseln sich ab mit der beklemmenden, sachlichen Schilderung des grausamen
Lageralltags. Immer erreicht Wodin eine große sprachliche Dichte.
Schließlich die gemeinsamen Jahre der Tochter mit der Mutter nach
Kriegsende. Sie erscheint nun als ein dem Leben entglittener Mensch. Das
erlebte Unglück in sich verschließend. Nicht wissend, was Wodin später bei
ihrer Suche herausgefunden hat: dass Bruder, Schwester und Mutter den Krieg
überlebt hatten, dass sie nicht von allen verlassen war. Wurzellos,
begreift Wodin, ist sie immer schon gewesen.
Wodins beeindruckendes literarisch-biografisches Projekt wendet sich ganz
der Mutter zu. Und zugleich gilt angesichts der vielen, die namenlos
geblieben sind: „Jeder von ihnen ist meine Mutter.“
14 Mar 2017
## AUTOREN
Carola Ebeling
## TAGS
Exil
Literatur
Deutsche Identität
Ukraine
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