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# taz.de -- Tagung zu Gedenkkultur in der Ukraine: „Den anderen in uns kennen…
> Die Tagung „Kontroverse Erinnerungen“ fand in Babi Jar statt, wo die
> Nazis Zehntausende ermordeten. Im Fokus stand das Thema Opferkonkurrenz.
Bild: Eines der Mahnmale, die an die Vergehen der Nazis und ihrer Helfer erinne…
Eine breite Allee führt in den Park. Das Laub der herbstlich gefärbten
Bäume strahlt im warmen Sonnenlicht. Spaziergänger flanieren,
Skateboardfahrer üben, Kinder lachen. Es ist sehr schön hier in Babi Jar am
Rande der ukrainischen Hauptstadt Kiew.
Am Eingang zum Park ist erst vor ein paar Tagen eine große Tafel
installiert worden. Darauf heißt es, bei diesem Gelände handle es sich um
einen Ort von Massenexekutionen. In Babi Jar starben am 29. und 30.
September 1941 mehr als 33.000 Juden. Sie wurden von der Sicherheitspolizei
der SS erschossen. Insgesamt wurden bis 1943 etwa 100.000 Menschen, zum
größten Teil Juden, in der Schlucht ermordet.
Das Schild am Parkeingang unterlässt es, die Täter zu nennen. Das ist
praktisch, denn so muss nicht darauf verwiesen werden, wer auch am größten
Massenmord mit Schusswaffen im Rahmen des Holocaust beteiligt war:
ukrainische Milizionäre. Das aber wäre unbotmäßig, denn die Organisation
Ukrainischer Nationalisten (OUN) genießt in Kiew heutzutage Heldenstatus.
Geschichte und ihre Interpretation reicht eben gerne bis in die Gegenwart.
„Kontroverse Erinnerungen“, so lautete der Titel einer Fachtagung der
Bundeszentrale für politische Bildung in Kiew. Babi Jar ist nur ein
Beispiel für die Schwierigkeiten vieler osteuropäischer Gesellschaften im
Umgang mit der jüngeren Geschichte. Wer ist Opfer, wer Täter? Das lässt
sich nicht immer so leicht entscheiden, wie es staatliche Stellen, um eine
gemeinsame Nationalhistorie bemüht, zu tun pflegen. Da sind die Verbrechen
der Nazis in den deutsch besetzten Ländern. Es gibt die Erinnerung an die
Morde unter dem Sowjetregime, an den Gulag und die tödliche Hungersnot, der
in den 1920er Jahren Millionen Menschen zum Opfer fielen. Und es
existierten einheimische Nationalisten, die Kommunisten bekämpften, aber
auch selbst Verbrechen begingen. Eine scheinbar endlose Opferkonkurrenz.
Deshalb entschieden die Verantwortlichen der Tagung weise, dass dort neben
Historikern aus Europa, Israel und den USA vor allem Vertreter der
Zivilgesellschaft auftraten, jene Gruppen und Menschen also, die
unangepasst darum bemüht sind, der historischen Wahrheit hinter den
Klischees, Halbwahrheiten und Lügen ans Licht zu verhelfen. Sie haben
heutzutage einen schweren Stand.
## Diverse Mahnmale
Die Allee von Babi Jar führt schnurgerade in den Park. Rechterhand das
erste Denkmal: Ein stilisierter Pferdewagen erinnert seit Kurzem an den
Mord an den Roma in Babi Jar, dem dort Zehntausende zum Opfer fielen. Gut
einhundert Meter weiter steht in Gedenken an den Judenmord auf steinernen
Stufen eine große Menorah. Ein Stück entfernt befindet sich ein Denkmal für
die getöteten Christen in Form eines großen Kreuzes. Es gibt ein kleines
Mahnmal für die nach Deutschland deportierten ukrainischen Zwangsarbeiter,
ein mittelgroßes gedenkt der mehrere hundert von den Nazis ermordeten
Nationalisten und ein riesenhaftes ist – natürlich – dem Ruhm der Roten
Armee im Großen Vaterländischen Krieg gewidmet.
Letzteres wurde schon 1976 erbaut, alle anderen kamen nach 1991 hinzu, als
nicht länger nur „Sowjetbürger“, sondern auch Juden und andere Verfolgte
als Opfer gewürdigt werden durften. Es gibt aber nicht den alten jüdischen
Friedhof am Rande von Babi Jar. Die Sowjets errichteten dort ein
Fernsehzentrum samt riesigem Parkplatz. Es gibt nicht die Schlucht, in der
die Opfer starben und verscharrt wurden. Das Moskauer Regime ließ sie
einebnen. Bevor der Park entstand, diente das Gelände einige Zeit lang als
Müllhalde.
Vor allen Dingen aber existiert bis heute kein gemeinsamer Ort des
Gedenkens. Stattdessen erinnert jede Gruppe ihrer Opfer, an insgesamt 29
verschiedenen Denkmälern. „Einen Haufen unzusammenhängender Dinge“, nannte
das der israelische Historiker Natan Sznaider, während Anatoly Podolsky vom
Ukrainischen Zentrum für Holocauststudien schon glücklich ist, dass
überhaupt endlich Gedenken ermöglicht wird.
Zu Sowjetzeiten war Geschichte tabuisiert, Opfer durften nicht genannt
werden und nur eine Lesart war erlaubt. Jetzt sind die alten Mythen
weggebrochen, doch neue brechen sich Bahn. Ein Wettbewerb der Opfergruppen
hat eingesetzt, in der die „Anderen“ höchstens ignoriert werden. Nur Täter
– das will keiner gewesen sein. Anna Colin-Lebedev aus Frankreich
schilderte diese Art der Erinnerungskriege eindrucksvoll an einem Beispiel:
Sowjetsoldaten, jahrzehntelang als Patrioten verehrt, mutieren zu
Besatzern, ukrainische Nationalisten von Verrätern zu Patrioten. So
holzschnittartig gedacht dürfen Patrioten selbstverständlich nicht befleckt
werden, in dem man auf deren widersprüchliches Verhalten während der
Nazi-Besatzung hinweist, als manche von ihnen beim Judenmord assistierten,
während andere die Verfolgten unterstützten. Im Fall der Ukraine kommt
hinzu: Das Land befindet sich im Donbass mit Russland im Krieg. Neue Helden
werden gebraucht, denen erste Denkmäler errichtet werden, während der
Gegner verteufelt wird.
## Furchtbare Parallelisierung
Das Museum zum Großen Vaterländischen Krieg in Kiew aber heißt jetzt
Nationales Museum der Geschichte der Ukraine und des Zweiten Weltkrieges
und die Ausstellungsstücke sind größtenteils geblieben. Igor Shchupak vom
Museum der jüdischen Erinnerung und des Holocaust in der Ukraine berichtete
stolz von einem Fernglas in seiner Ausstellung, das einst ein Rotarmist
einem Wehrmachtsoldaten abgenommen habe und mit diesem bis nach Berlin
gezogen sei. Jetzt aber habe sein Enkel dieses Fernglas im Kampf im Donbass
gegen die Russen wieder verwendet – eine erschreckende Parallelisierung von
Geschichte und Gegenwart.
Die Konstruktion statt der Dekonstruktion der Geschichte ist freilich ein
Phänomen, das in vielen osteuropäischen Ländern zu beobachten ist. Wenn in
Riga ein riesiges Denkmal an die wenigen christlichen Letten erinnert, die
den Juden zur Zeit der NS-Besatzung geholfen haben, aber im ehemaligen
Getto kein Hinweis darauf existiert, wie viele Letten die Nazis beim Mord
unterstützten, dann entsteht zwar ein Stück positiver Nationalgeschichte,
die aber mit Geschichte nur wenig zu tun hat. Wenn in Polen die
konservative Regierung alles daran setzt, die Beteiligung von Einheimischen
am Holocaust zu negieren und gar unter Strafe zu stellen, dann wird
Geschichte der nationalistischen Ideologie untergeordnet. Es heißt unter
allen Umständen Opfer zu sein und zu bleiben, nur nicht Täter.
Nun wären die Deutschen die letzten, um denjenigen, die sie einst
überfallen haben, nun auch noch zu lehren, wie sie gefälligst mit der
Erinnerung umzugehen hätten – zumal gerade das Massaker von Babi Jar in
Deutschland lange Zeit ein „blinder Fleck“ geblieben ist, erklärte Thomas
Krüger, Leiter der Bundeszentrale. Erfreulicherweise war die Kiewer Tagung
frei von entsprechenden Zurechtweisungen. Umso mehr verdienen diejenigen
Initiativen aus der osteuropäischen Zivilgesellschaft Respekt, die der
staatlich gelenkten Erinnerung etwas entgegenzusetzen versuchen.
Josef Zissels vom Jüdischen Weltkongress wies darauf hin, dass mehr als 90
Prozent aller Veranstaltungen um das Gedenken zum 75. Jahrestag der
Massaker von Babi Jar von der Zivilgesellschaft organisiert worden sind,
nicht etwa vom Staat. „Wir sind schon froh, wenn der Staat nicht stört“,
sagte Anatoly Podolsky vom Zentrum für Holocauststudien in Kiew. Viele
dieser Gruppen aus verschiedenen Ländern hatten in Kiew die Möglichkeit
miteinander ins Gespräch zu kommen. Das reichte von einer russischen
„Memorial“-Gruppe, die sich darum bemüht, vergessene Gulag-Lager zu
kartieren, bis zur „Hirschfeld-Eddy-Stiftung“, die sich für Rechte von
Lesben und Schwulen einsetzt.
## Multiethnische Geschichte
Vor allem wurde in Kiew deutlich, dass die Vorstellung einer nationalen
Erinnerung fehlgeht. Gerade in Osteuropa mit seiner multiethnischen
Geschichte, den vielfachen Grenzverschiebungen und verschwindenden und sich
neu konstituierenden Staaten kann sich Erinnerungskultur nur über nationale
Grenzen hinweg der Wahrheit annähern. Wie aktuell Vergangenheit geblieben
ist, lässt sich dabei am Beispiel Wolhynien demonstrieren. Dort
massakrierten Ukrainer 1943 Tausende Polen. Während aber Polen dies als
Völkermord begreift und der Ukraine vorwirft, der Verbrechen nicht
ausreichend zu gedenken, werden in der Ukraine die Anführer verehrt, weil
sie für einen unabhängigen ukrainischen Staat kämpften.
Der Erinnerungskonflikt bleibt ungelöst, solange die Mythen der eigenen
nationalen Gruppe nicht infrage gestellt werden. „Wir müssen den anderen in
uns selbst kennenlernen“, sagte Tatiana Zhurzhenko vom Institut für die
Wissenschaft vom Menschen in Wien. Die Ära der Sowjetherrschaft bezeichnete
sie als „offenes Grab“. In Babi Jar versprach der ukrainische Präsident
Petro Poroschenko bei der Gedenkveranstaltung im September den Bau einer
Holocaust-Gedenkstätte. Gemeinsames Erinnern aller Opfer – das wäre ein
großer Schritt nach vorn. Kann ein Staat, der einerseits endlich dem
Holocaust gedenkt und andererseits Judenmörder der nationalistischen OUN
verehrt, eine Gedenkstätte ohne historische Schieflage errichten?
Es gibt allen Grund, die Vertreter zivilgesellschaftlicher Initiativen des
Erinnerns in ihrem Kampf für eine Geschichte ohne nationalistische Mythen
weiter zu unterstützen.
9 Oct 2016
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
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