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# taz.de -- 75 Jahre Nazi-Massaker von Babi Jar: Gedenken streng verboten
> Ein Dreivierteljahrhundert ist eines der blutigsten Naziverbrechen an den
> Juden nun her. Zu Sowjetzeiten wurde die Erinnerung getilgt.
Bild: Die Porträts von zwei Holocaust-Überlebenden stammen aus dem Fotoband �…
Nichts, aber auch gar nichts sollte an dem organisierten Massenmord an
100.000 Juden in Babi Jar erinnern. Ein Teil der Schlucht wurde
zugeschüttet, darauf bauten die Sowjets zwei Autobahnen. In einem anderen
Teil entstanden Neubauten und ein Park. Schließlich beschloss die
Stadtverwaltung, den größten Teil des Geländes als Mülldeponie zu nutzen.
Im sowjetischen Narrativ des Großen Vaterländischen Krieges fand der
Holocaust keinen Platz. Juden wurden aus der Gesamtmasse der „friedvollen
sowjetischen Bürger, der Faschismusopfer“ nicht herausgehoben.
Heute gibt es in Babi Jar 29 Gedenktafeln und Denkmäler, die an einzelne
Opfergruppen wie Juden, orthodoxe Priester, Roma und ukrainische
Nationalisten erinnern. An die Denkmäler grenzen Spielplätze und Kioske. Im
Jahr 2000 wurde mitten in der ehemaligen Schlucht eine U-Bahn-Station
eröffnet.
Babi Jar ist eines der am deutlichsten erkennbaren Orte der Naziverbrechen,
eines Genozids, den moderne Forscher als „Holocaust durch Kugeln“
bezeichnen. Während west- und mitteleuropäische Juden von den Nazis
größtenteils in Todeslager deportiert und dort ermordet wurden, hat man die
Juden in der Sowjetunion an meist abgelegene Orte gebracht und dort
erschossen.
Babi Jar war mit 2,5 Kilometer Länge eine der größten und tiefsten (über 50
Meter) Kiewer Schluchten. Die Wehrmacht eroberte die Hauptstadt der
Sowjetukraine am 19. September 1941. Nur acht Tage später, am 27.
September, wurden in der Stadt Anschläge ausgehängt, die die Kiewer Juden
aufforderten, sich am Montagmorgen, den 29. September, in der Nähe von Babi
Jar zu versammeln. Der geplante Massenmord wurde als „Umsiedlungsmaßnahme“
inszeniert. Die Opfer sollten „Pässe, Geld, Wertsachen, warme Kleidung,
Wäsche u.ä.“ mitbringen.
Innerhalb von zwei Tagen, am 29. und 30. September, wurden in Babi Jar
33.771 Juden erschossen. Diese Zahl stammt aus dem Bericht des Chefs der
Sicherheitspolizei und des SD. Die Täter kamen aus dem 4. Sonderkommando
der Einsatzgruppe C, die Helfer waren Mitglieder des Polizeiregiments Süd
und lokale Milizionäre.
Babi Jar ist während der gesamten deutschen Besatzungszeit ein Ort der
Massenerschießungen geblieben. Die letzten Morde gab es am 4. November
1943, also nur zwei Tage vor dem Einmarsch der Roten Armee. An diesem Tag
fielen den Nazis sowjetische Häftlinge und Insassen von fünf Roma-Lagern
zum Opfer. Insgesamt sind mindestens 100.000 Menschen in Babi Jar getötet
worden. Nach Einschätzungen der Historiker waren 65.000 bis 70.100 davon
Juden.
Nur erinnert werden durfte daran lange Zeit nicht. Dabei thematisierten
unmittelbar nach der Befreiung von Kiew Intellektuelle die Schrecken von
Babi Jar. 1943 veröffentlichte der jüdische Schriftsteller Wassili
Grossman, der seine Mutter im Ghetto von Berditschew verloren hatte, einen
Essay „Ukraine ohne Juden“. Izik Kipnis und Ilja Ehrenburg schrieben über
Babi Jar. Aber diese und ähnliche Texte wurden im Zuge von Stalins
antisemitischer Kampagne in die Schubladen verbannt.
## 1976 entstand das erste Denkmal von Babi Jar
1961 hat Jewgenij Jewtuschenko ein Gedicht über Babi Jar verfasst, das
weltberühmt wurde. „Über Babi Jar, da steht keinerlei Denkmal . . .“ Der
Text geißelt die fehlende Gedenkkultur und den Antisemitismus in der
sowjetischen Gesellschaft. Er wurde zur Grundlage der 13. Symphonie von
Dmitri Schostakowitsch.
1966 erschien in der Zeitschrift Jugend der dokumentarische Roman „Babi
Jar“ von Anatoli Kusnezow. Als die Deutschen Kiew besetzt hatten, war der
Autor zwölf Jahre alt gewesen. Während der Okkupation führte er ein
Tagebuch, das später zur Grundlage seiner Erzählung wurde. Der
eindringliche Bericht wurde in der UdSSR stark zensiert. 1969 bat Kusnezow
in England um Asyl. Ein Jahr später erschien eine englische, unzensierte
Version.
1976 entstand das erste Denkmal von Babi Jar – eine Bronzeskulptur aus
mehreren Figuren, gewidmet „allen Sowjetbürgern, Kriegsgefangenen und
Offizieren der Sowjetarmee, die von deutschen Faschisten in Babi Jar
erschossen wurden“. Juden wurden nicht erwähnt.
In der postsowjetischen Ukraine konnte das Tabu Holocaust endlich
durchbrochen werden. Doch nicht der Staat, sondern die zivile Gesellschaft
und internationale Organisationen haben sich des Gedenkens angenommen.
Bezeichnend, dass es der 2014 gestürzte ukrainische Expräsident
Janukowitsch in seiner Gedenkrede in Babi Jar 2011 fertigbrachte, weder den
Holocaust noch die Juden zu erwähnen.
Vor einem halben Jahrhundert beendete Anatoli Kusnezow sein Buch über den
Massenmord von Babi Jar mit den folgenden Worten: „Welche neuen Babi Jars,
Majdaneks, Hiroshimas und Kolymas – an welchen Orten und in welchen neuen
technologischen Formen – stecken noch im Nichtsein und warten darauf, dass
ihre Stunde schlägt? Und wer von uns Lebenden ist womöglich bereits ein
Anwärter darauf? Ob wir jemals verstehen werden, dass das Wertvollste auf
der Welt das Leben eines Menschen und seine Freiheit ist? Oder steht die
Barbarei noch bevor? Mit den Fragen werde ich wohl dieses Buch abbrechen.
Ich wünsche euch Frieden. Und Freiheit.“
Die deutsche Polizei und die SS waren es, die die Massenerschießungen
durchführten. Doch häufig gab es einheimische Helfer, darunter auch viele
antisemitisch eingestellte Ukrainer. Israels Staatspräsident Reuven Rivlin
machte bei seinem Besuch in Babi Jar am Dienstag darauf aufmerksam und
nannte dabei auch die „Kämpfer der Organisation Ukrainischer Nationalisten“
(OUN). Das wollte der Chef des Instituts für Nationales Gedächtnis in Kiew,
Wladimir Wjatrowitsch, so nicht stehen lassen. Er sprach von „einem
„sowjetischen Mythos“.
Die Debatte über die Rolle der ukrainischen Nationalisten, die an den
Erschießungen teilgenommen haben, zeugt davon, dass die Geschichte bis in
die Gegenwart reicht. Vor dem 2003 in Kiew gegründeten Komitee „Babi Jar“
stehen gewaltige Aufgaben.
Aus dem Russischen von Irina Serdyuk
29 Sep 2016
## AUTOREN
Andrii Portnov
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