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# taz.de -- Zeev Sternhell über Faschismus: „Faschistische Mentalität war n…
> Für Faschisten ist die Gesellschaft ein lebender Organismus: der
> israelische Politologe Zeev Sternhell über die Aktualität ihres Denkens.
Bild: Die Eigentumsverhältnisse blieben unangetastet: italienische Faschisten …
taz: Herr Sternhell, nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Holocaust
dachte die Welt, die faschistische Gefahr sei vorüber. War das eine
unsinnige Diagnose?
Zeev Sternhell: Das war das Ergebnis davon, das Wesen des Faschismus und
auch des Nazismus zu missverstehen. Für die meisten Menschen in Europa war
es sehr bequem zu denken, dass die 1920er und 1930er nicht mehr waren als
ein unglückliches Ergebnis des Ersten Weltkrieges. Ein Unfall, der nicht
wirklich zur Geschichte dieser Länder gehörte. Für Benedetto Croce war der
italienische Faschismus ein Phänomen „in Klammern“, das nicht zur
italienischen Geschichte gehörte. In Frankreich wurde die Vichy-Diktatur
als ein unbedeutendes Übergangsphänomen zwischen der Dritten und Vierten
Republik gesehen.
Das kennt man auch aus Deutschland.
Richtig. Für konservative Historiker wie Ernst Nolte wurde der Nazismus
nicht durch die deutsche Kultur produziert, sondern war eine Imitation des
Bolschewismus und eine Antwort auf den Stalinismus und die vom Kommunismus
ausgehende Gefahr für die deutsche Bourgeoisie. Er hatte demnach nichts zu
tun mit der langen Kampagne gegen die Aufklärung, die Französische
Revolution und die Menschenrechte weit vor 1914.
Wie haben die Mentalitäten der Faschisten überlebt?
Faschistische Mentalitäten mussten nicht überleben, weil sie nie tot waren.
Sie sind ein wesentlicher Bestandteil unserer Zivilisation. Ein Produkt der
Krise der Zivilisation am Anfang des 20. Jahrhunderts. Die
wissenschaftliche Revolution stieß die Sicht um, die Menschen von sich
selbst und dem Universum, das sie bewohnten, hatten. Eine wirkliche
intellektuelle Revolution bereitete die Erschütterungen vor, die bald das
europäische Disaster der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts produzieren
würden. So muss die faschistische Indoktrinierung erklärt werden: Die
extreme, präfaschistische und bereits vollständig faschistische Rechte
waren das direkte Ergebnis dieser Krise der Zivilisation in einem noch nie
da gewesenen Ausmaß. Deshalb konnte der Faschismus eine Massenbewegung und
gleichzeitig ein elitäres intellektuelles Phänomen werden. Welches fähig
war, einige der fortschrittlichsten Elemente der Avantgarde dieser Zeit
anzuziehen.
Müssen wir in Deutschland einen neuen Nationalismus fürchten, einen neuen
europäischen Faschismus?
Die extreme Rechte ist in Frankreich, Holland oder Israel nicht weniger
stark. Faschismus gehört zu unserer Geschichte. Er ist eine permanente
Bedrohung für die liberale Demokratie und für die soziale Demokratie, die
beide im Geist der Aufklärung verwurzelt sind. Es ist ein ruhendes
Phänomen: In Zeiten von Frieden und Wohlstand fühlt man seine Existenz
nicht. Aber in schwierigen Zeiten wie jenen, die wir gerade erleben,
gewinnen faschistische Ideen an Stärke und treten zutage. Faschismus
befasste sich und befasst sich weiterhin mit einem realen Problem: Die
Natur von sozialen Beziehungen.
Wie geht er mit diesem Problem um?
Der Faschismus lieferte attraktive Antworten auf einige der Fragen, die die
Leute in den letzten zwei Jahrhunderten beschäftigten: als Erstes, was
bringt eine Gruppe von Menschen in eine Gesellschaft? Was ist die Natur der
Beziehung zwischen Individuum und dem Kollektiv, und was ist die Grundlage
von politischer Legitimität? Was macht eine Nation aus? Ist sie eine
Option, frei geäußert von Individuen mit gleichen Rechten, so wie es die
Französische Revolution in ihren ersten Jahren beibehielt? Oder sind es
Geschichte, Kultur, Religion, die ethnische Gruppe, die Nation definieren?
Was ist die Natur des gemeinsamen Nenners, der Menschen dazu befähigt, ein
Minimum an Solidarität zu entwickeln, das ein Zusammenleben möglich macht?
Was gibt dem Leben in der Gesellschaft eine Bedeutung? Daher war der
Faschismus, bevor er eine politische Kraft wurde, ein kulturelles Phänomen.
Wovor fürchten sich Faschisten und Rechtspopulisten? Was hassen sie?
Faschisten und alle extremen Rechten hassen die Prinzipien der Aufklärung.
Das Erbe des 18. Jahrhunderts, die Menschenrechte und die Idee, dass die
Gesellschaft ein Gesamtwert von Individuen ist und nicht ein organischer
Körper. Das ist sehr wichtig: Aus ihrer Sicht ist die Beziehung zwischen
einem Individuum und der Gesellschaft vergleichbar mit der Beziehung, die
zwischen einem Baum und einem Blatt oder Ast besteht: Individuen gehören
auf die gleiche Weise zur Gesellschaft. Gesellschaft ist eine Nation, ein
lebender Organismus. Und eine Nation ist das Produkt von Geschichte,
Ethnizität, Kultur. Sprache ist kein Kommunikationsmittel, es ist der
perfekte Ausdruck des Volksgeistes. Für sie sind die Liberalen und
Sozialisten, welche die Nation für alle, für jeden Immigranten, jeden
Ausländer, zugänglich machen möchten, Feinde der Nation, deren Kultur und
Geschichte.
Was können wir gegen diese Tendenzen tun?
Vor allem gilt es an den Prinzipien der Aufklärung festzuhalten. An Kant,
Rousseau und Voltaire und damit an der Idee der Autonomie des Individuums.
Es ist besser, eine Wahl zu verlieren, als Kompromisse zu machen und seine
Seele zu verlieren.
Sie schreiben in Ihren Büchern, dass es einen großen Unterschied zwischen
der konservativen Mentalität und der faschistischen Mentalität gibt. Worin
besteht dieser Unterschied für Sie?
Die faschistische Mentalität ist eine revolutionäre Mentalität, keine
konservative. Faschisten haben nichts aufrechtzuerhalten in der modernen
Welt, außer den Kapitalismus. Faschisten kämpfen gegen die intellektuellen
und moralischen Prinzipien des Liberalismus. Nicht gegen die liberale
Wirtschaft. Die kommunistische Revolution war die Art von Revolution nach
den Vorstellungen des 19. Jahrhunderts: eine wirtschaftliche und soziale
Revolution. Die faschistische Revolution war jedoch recht unterschiedlich:
eine echte Revolution des 20. Jahrhunderts. Es war eine kulturelle,
moralische, psychologische und politische Revolution. Aber eine, die nie
die Grundlage der existierenden Wirtschaftsordnung berührte. Somit wurde
eine neue menschliche Ordnung geschaffen, aber soziale sowie
wirtschaftliche Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten wurden nicht
beseitigt. Den Kapitalismus als das natürliche Fundament von Gesellschaft
zu akzeptieren war ein grundlegendes Merkmal von Faschismus. Denn der
Kapitalismus kommt mit den schlimmsten Tyranneien genauso problemlos
zurecht wie mit der Demokratie.
Aus dem Englischen von Marion Bergermann
26 Sep 2016
## AUTOREN
Jan Feddersen
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