| # taz.de -- Peter-Weiss-Festival in Berlin: Vom Verschwinden des Theaters | |
| > Was sagt uns Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“ heute? Das Berlin… | |
| > HAU fragt in einem Festival internationale Theatermacher. | |
| Bild: Szene aus „Die Diktatur der Coolness“ von dem Theaterkollektiv La Re-… | |
| „Wären wir wirklich radikal und engagiert, würden wir unsere Zeit nicht | |
| damit verbringen, Theater zu machen. Wir wären auf der Straße, dort, wo der | |
| Sturm nicht aus Beifall besteht, die Szenerie nicht aus Karton und das Blut | |
| kein Effekt ist.“ | |
| Marco Layera sagt das, ein Regisseur aus Santiago de Chile, der mit seinem | |
| Kollektiv La Re-sentida vom HAU in Berlin eingeladen wurde, ein Stück zum | |
| Festival „Die Ästhetik des Widerstands – Peter Weiss 100“ zu machen. | |
| In dem Roman von Peter Weiss, der im November vor 100 Jahren geboren wurde, | |
| kämpfen die Protagonisten nicht nur mit faschistischen Gegnern, sondern | |
| auch mit vielen Widersprüchen, wie dem zwischen der Notwendigkeit des | |
| politischen Kampfes und der Zersplitterung des eigenen Lagers, oder | |
| zwischen dem Verzicht, den der Widerstand verlangt, und dem persönlichen | |
| Anspruch auf Glück. | |
| Viele dabei entstehende Fragen sieht Festivalkuratorin Anne Quinones | |
| wiederkehren durch das Wiedererstarken von nationalistischen Bewegungen. So | |
| entstand die Idee, die Aktualität von Peter Weiss mit einem Festival zu | |
| erkunden. | |
| ## Die Elite wird verdrängt | |
| Die Angst, zur falschen Klasse zu gehören und mit dem Kunstmachen ein | |
| unberechtigtes Privileg zu genießen, die Marco Layera im Programmheft | |
| ausspricht, ist tatsächlich ein Motor des Stücks „Die Diktatur der | |
| Coolness“ von La Re-sentida. Von einer Party wird erzählt, auf der eine | |
| Schauspielerin, ein Kurator, der Direktor einer NGO und weitere Freunde, | |
| die den Aufstieg in eine kulturelle Elite geschafft haben, feiern, dass | |
| einer von ihnen zum Kulturminister ernannt wurde. Doch der misstraut ihrem | |
| radikal libertären Gebaren und besetzt lukrative Posten mit Unbekannten aus | |
| dem Volksbildungssektor. | |
| Genüsslich, laut und mit viel Klamauk malt das Stück das Entsetzen der | |
| Freunde aus, ihre Selbstverteidigung und ihre Schadenfreude untereinander. | |
| Das ist einerseits eine böse Karikatur vom hedonistischen Bürgertum, in der | |
| es andererseits keinen glaubhaften Gegenentwurf gibt. Die Spielweise setzt | |
| auf forcierten Witz, auf Effekte und Tricksereien, die sogleich ins Licht | |
| des Unlauteren gesetzt werden. Hungrig nach Glamour werden die Künstler | |
| dargestellt und doch voller Misstrauen in die eigene Ästhetik. | |
| Weit entfernt von diesem Theaterdonner ist das Stück „Life“, das Nicoleta | |
| Esinencu entwickelt hat. Die moldawische Künstlerin kämpft zu Hause seit | |
| Langem gegen das Gefühl der Isolation an, gegen die Entsolidarisierung der | |
| Gesellschaft, gegen die Förderung von Denunziation. Und dennoch bleibt sie | |
| in Chișinău, wo sie ein Theater mitbegründet hat. | |
| Ihr Stück „Life“ könnte man beinahe ein Monument solchen Beharrens nennen, | |
| wäre es nicht so zart und skizzenhaft in seinen ästhetischen Mitteln. Im | |
| Zentrum steht eine Frau, Ludmilla Andreevna, genannt die Erdbeere, die in | |
| einer Kleinstadt im Osten der Ukraine lebt und während des Krieges mit | |
| Russland von dort mit ihrer Tochter telefoniert. Esinencu und eine zweite | |
| Schauspielerin sprechen die Telefonate nach, von Geräuschen, mit | |
| Kriegsspielzeug erzeugt, unterbrochen. | |
| ## Obst einmachen | |
| Die Mutter will nicht fliehen, sie verliert nach und nach ihre Angst vor | |
| dem Kriegslärm, – oder behauptet das zumindest -, kümmert sich um den | |
| Garten, trotzt Strom- und Rentenausfall mit eingemachtem Obst, hilft | |
| Nachbarn und schimpft Soldaten als grüne Jungs aus. Es ist ein Heroismus | |
| des Alltags, von dem das Stück ganz unspektakulär erzählt. | |
| Das HAU in Berlin ist froh, mit den Fördermitteln, die sie von der | |
| Kulturstiftung des Bundes für ihr Weiss-Projekt erhalten haben, den | |
| Theatermachern die Produktion neuer Stücke zu ermöglichen, die dann eben | |
| nicht nur in Berlin gespielt werden, sondern auch zum Beispiel in Chișinău. | |
| Man fühlt sich im Publikum bisweilen wie ein Zaungast, der etwas sieht, das | |
| in einem anderen Kontext womöglich größere Bedeutung entfalten könnte. | |
| Dazu trägt sicher auch bei, dass man unentwegt Untertitel lesen muss, aus | |
| dem Spanischen, Russischen, Rumänischen oder etwa aus dem Arabischen. Rabih | |
| Mroué und Lina Majdalanie kommen aus Beirut und haben im HAU viele Stücke | |
| gezeigt. Ihre neue Arbeit „So little time“ ist eine skurrile Erzählung üb… | |
| einen Libanesen, der zum Märtyrer für den Kampf der Palästinenser | |
| stilisiert wird und von dieser fiktiven Geschichte nicht mehr in ein | |
| anderes Leben zurückfindet. Der Text hat Witz. Am Ende aber denkt man, er | |
| wäre zwischen zwei Buchdeckeln auch gut aufgehoben. | |
| ## Die Bilder sind alle weg | |
| Wie Bilder unser Leben besetzen, unsere Vorstellung von uns selbst | |
| manipulieren, ist ein Motiv in „So Little Time“ und ein Thema, mit dem sich | |
| Mroué und Majdalanie schon lange beschäftigen. Während Majdalanie die | |
| Geschichte vom Menschen, der nicht so werden konnte wie sein eigenes | |
| Denkmal, auf der Bühne erzählt, legt sie Fotos in ein Säurebad, bis nichts | |
| mehr darauf zu sehen ist. Die leeren Bilder hängen auf einer Wäscheleine, | |
| während sie weiter in eine Kamera spricht. Jetzt hat sich alles in Text | |
| aufgelöst, in Gedanken, Reales ist nicht mehr zu fassen, die Bilder sind | |
| alle weg. | |
| Aber weil man, beziehungsweise, wer kein Arabisch versteht, mit den Augen | |
| schließlich nur noch den Worten der Übersetzung folgen kann, verdünnt sich | |
| dieser Theaterabend immer mehr. Eine Ästhetik, die sich zum Verschwinden | |
| bringt. | |
| 7 Oct 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Bettina Müller | |
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