# taz.de -- Peter Weiss' 100. Geburtstag: Der kämpfende Ästhet | |
> Vor 100 Jahren ist Peter Weiss in Nowawes bei Potsdam geboren. Über das | |
> Leben des großen Nachkriegsliteraten, der in kein Ost-West-Schema passte. | |
Bild: Peter Weiss, undatierte Aufnahme | |
Einer größeren Öffentlichkeit wurde Peter Weiss im April 1964 bekannt. | |
Damals brachte der polnische Regisseur Konrad Swinarski am Berliner | |
Schillertheater das Weiss-Drama „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul | |
Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton | |
unter Anleitung des Herrn de Sade“ zur Uraufführung. | |
In den Figuren Marats und de Sades debattiert Weiss hier den Gegensatz von | |
politischen und künstlerischen Interessen, kollektiven und individuellen | |
Freiheitsrechten, revolutionärer Gewalt und humanistischer Moral. Themen, | |
die sich durch das gesamte Leben und Werk des 1916 bei Potsdam geborenen | |
Künstlers ziehen sollten. | |
1965 folgte die Inszenierung von Weiss’Drama „Die Ermittlung“ als | |
Ringaufführung in 14 Theatern und in beiden Teilen Deutschlands. „Die | |
Ermittlung“ basierte auf Weiss’Beobachtungen und Analysen des Frankfurter | |
Auschwitz-Prozesses, der von 1963 bis 1965 stattfand. Das Drama markiert | |
einen anderen lebenslangen Bezugspunkt in Weiss’Werk: den aktiven | |
Antifaschismus sowie die Beschäftigung mit der nazistischen Gewalt und | |
deren Fortbestand. | |
Weiss war Sohn eines assimilierten deutschen Juden und einer deutschen | |
Schauspielerin. Der Vater war Textilkaufmann und zum Christentum | |
konvertiert. Erst 1938 im tschechischen und später ab 1939 im schwedischen | |
Exil wurde Weiss nach und nach bewusst, wie es um ihn als „Halbjuden“ | |
wirklich stand. In seinem autobiografischen Roman „Fluchtpunkt“, | |
veröffentlicht 1962, stellt Weiss fest: „Ich habe mich oft gefragt, was | |
passiert wäre, wenn mein Vater kein Jude gewesen wäre und wir das Land | |
nicht verlassen hätten.“ Selbstzweifel und Schuldgefühle begleiteten ihn, | |
der dem Holocaust entkommen war. Und dessen Vater bis 1938 über seine | |
jüdische Herkunft nicht gesprochen hatte. Auch als ihm Sohn Peter 1939 ins | |
schwedische Exil folgte, tat man im Hause Weiss so, als ob familiäre und | |
wirtschaftliche Gründe – und nicht Antisemitismus und Rassegesetze der | |
Nazis – ausschlaggebend für die Übersiedlung gewesen wären. Eine | |
„Lebenslüge“ seiner Eltern, wie Weiss später feststellen sollte. | |
## „Eine Ortschaft, für die ich bestimmt war“ | |
In seiner Biografie „Peter Weiss“ (Suhrkamp, 2016) berichtet Werner Schmidt | |
über die aus dem Holocaust resultierende Selbstverpflichtung des Künstlers. | |
So lud Klaus Wagenbach 1964 deutschsprachige Schriftsteller ein, Texte über | |
ihre Geburts-, Wunsch- oder Bestimmungsorte zu verfassen, darunter auch den | |
weiterhin in der schwedischen Diaspora lebenden Weiss. | |
Als „Meine Ortschaft“ wählte Weiss weder seinen Geburtsort Nowawes bei | |
Postdam noch die Kindheitsstationen in Bremen oder Berlin. Nicht den | |
Zufluchtsort bei Hesse im schweizerischen Montagnola in den 1930er Jahren | |
und auch nicht London, Prag oder Stockholm. Nein, er nannte Auschwitz. | |
„Eine Ortschaft,“ so Weiss, „für die ich bestimmt war und der ich entkam… | |
Zu beiden Teilen Deutschlands behielt Weiss nach 1945 ein gespaltenes | |
Verhältnis: „Deutschland war für mich, obgleich die Sprache weiterhin als | |
Arbeitsinstrument besteht, nicht das Land, ob es nun die Bundesrepublik ist | |
oder die DDR, in dem ich mich zu Hause fühlte.“ Bevor Weiss Deutsch „als | |
Arbeitsinstrument“ für sich wieder akzeptieren konnte, hatte er sich als | |
Dramatiker und Dichter auf Schwedisch versucht. Zur Schriftstellerei war er | |
über den Umweg der Malerei und des Experimentalfilms gelangt. | |
In einem Gespräch 1981, ein Jahr vor seinem Tod, sagte er, von Heinz Ludwig | |
Arnold befragt nach dem Wechsel seiner künstlerischen Ausdrucksweise in den | |
1950er Jahren: „Ich hatte früher überhaupt keinen Zweifel daran, dass ich | |
Maler war, ich lebte als Maler, und was ich schrieb, waren Nebenprodukte; | |
die Malerei war das Primäre.“ Doch, so Weiss weiter, die Schrift, Romane | |
und Dramen „ließen eine größere Beweglichkeit zu, die ich in der Malerei | |
nicht mehr fand.“ | |
## Bedingungslose Empathie mit Unterdrückten | |
Weiss wurde so schließlich zu einem epochalen Schriftsteller, der mit „Die | |
Ästhetik des Widerstands“ in den 1970er Jahren ein „Jahrhundertwerk“ | |
(Heiner Müller) schuf. Den Zumutungen der autoritären Bevormundung durch | |
die Partei hatte sich Weiss schon bei seinen Zusammenkünften und | |
Inszenierungen in der DDR zu entziehen versucht, ohne dem damals exzessiven | |
Antikommunismus des Westens das Wort zu reden. | |
Entschieden auch seine Parteinahme für die Neue Linke und die | |
antikolonialen Bewegungen des Trikonts, deren eigene Unzulänglichkeiten für | |
Weiss wie viele andere schwärmerische Linke in den 1960/70er Jahren noch | |
nicht erkennbar waren. Es war die Hochphase des Kalten Kriegs, mit | |
Napalmbomben auf Vietnam und Putschen in Südamerika. In gewisser Hinsicht | |
verkörperte Weiss in jener Phase bei seinen politischen Auftritten den | |
Prototyp eines moralisierenden, zu Selbstgerechtigkeit neigenden | |
Großintellektuellen, der analytisch zwischen Auschwitz und den | |
Menschenrechtsverbrechen der Amerikaner in Vietnam nicht zu unterscheiden | |
wusste. | |
Jedoch war er zur bedingungslosen Empathie mit den Unterdrückten, | |
Erniedrigten und Beleidigten egal welcher Herkunft fähig, eine Fähigkeit, | |
die ihn mit anderen interventionistischen Intellektuellen wie Sartre | |
verband. In „Die Ästhetik des Widerstands“ diskutiert Weiss in | |
dokufiktionaler Prosa das Scheitern der Arbeiterbewegung im 20. | |
Jahrhundert. | |
Und das durchaus differenzierter als man dies bei Erscheinen des ersten | |
Bandes 1975 in der Öffentlichkeit wahrnehmen wollte. Das belegen auch seine | |
1983 veröffentlichen Notizbücher dazu. Weiss war Antifaschist, auch | |
Antiimperialist, aber Stalinist war er nie. Dazu setzte er viel zu sehr auf | |
die Freiheit des Individuums, eigenständiges Denker- und Künstlertum, seine | |
„kämpfende Ästhetik“. Im Angesicht des Faschismus war er zu Zugeständnis… | |
bereit, die aber niemals Liquidierungen durch Parteigenossen oder | |
Hitler-Stalin-Pakte mit einschlossen. | |
## Im Namen dieses Sozialismus | |
Die Lektüre der „Ästhetik des Widerstands“ gibt den Blick auf eine Epoche | |
frei, die durch harte Klassengegensätze und den Kampf zwischen linker | |
Arbeiterbewegung und Faschisten geprägt war. Und kapitalistischen | |
Demokratien, die mitunter nicht wussten, wem sie im Zweifelsfall zugeneigt | |
sein sollten. In „Die Ästhetik des Widerstands“ hat sich der Exilant Weiss | |
selbst als ein erzählendes und aufnehmendes Autoren-Ich mit eingeschrieben, | |
neben „Renegaten“ des Weltkommunismus wie Max Hodann. | |
In ein großes „Welttheater“, auf der Suche nach kollektiver Wahrheit und | |
individueller Selbstverwirklichung. Weiss entschlüsselt die Pergamonfriese | |
als Ikonen aus der Geschichte der Klassenkämpfe genauso wie er Géricaults | |
Gemälde „Das Floß der Medusa“ als eine Kritik am Verrat der Postulate der | |
Französischen Revolution düster deutet. Pathetisch lässt Weiss seine | |
Protagonisten im Angesicht von Spanischem Bürgerkrieg oder Faschismus über | |
politische Ideale streiten, immer dabei das Wissen im Hintergrund | |
aufblitzend, dass die menschliche Existenz erst durch Solidarität und | |
kulturelle Sublimierung zu einer solchen wird. | |
„Gerade die Ästhetik ist ja eine ständige Auseinandersetzung mit den | |
Fehlern und mit den Missgriffen und mit den direkt missglückten und | |
schauerlichen Ereignissen, die im Namen dieses Sozialismus begangen | |
wurden“, so Peter Weiss. Am 8. November 2016 wäre er hundert Jahre alt | |
geworden. | |
7 Nov 2016 | |
## AUTOREN | |
Andreas Fanizadeh | |
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