# taz.de -- Kolumne Mittelalter: Zur Wiedervorlage | |
> Peter Weiss erinnert nicht nur an Haltung, sondern auch an frühes | |
> Literatenleid und harte Stunden im selbstverwalteten Seminar. | |
Bild: Mmmh… selbstverwalteter Lesekreis | |
Das Leben des mittelalten Menschen ist durchwirkt von Wiedervorlagen: Den | |
alten Freund trifft man auf dem Marktplatz einer großen Kreisstadt, und die | |
vergangene Liebe sucht späte Rettung via Internet. Nur das aktuell geklaute | |
Fahrrad bleibt unauffindbar. Aber so ist die Gegenwart wenigstens mit einem | |
Rest starker Emotionen – und sei es Hass auf den Dieb – getränkt, und für | |
die Zukunft darf noch gehofft werden. Zurückschauen ist eben das | |
Klebstoffschnüffeln der auf den Alltagsinseln Gestrandeten. | |
Und so ging ich Anfang dieses Monats durchaus zögernd zur | |
[1][Abschlussdiskussion der Peter-Weiss-Woche im Berliner Literaturforum] | |
im Brechthaus – standen doch gleich mehrere Wiederbegegnungen auf dem | |
Programm: die mit Peter Weiss, die mit dem Leipziger Literaturinstitut und | |
die mit dem Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel. | |
Letzterer saß mit Anke Stelling und dem Theatermann Milo Rau auf dem Podium | |
der Abschlussdiskussion, bei der man sich die Aktualität von Peter Weiss zu | |
erörtern vorgenommen hatte. Treichel war einer meiner Prüfer gewesen, als | |
ich 1995 nach Leipzig reiste. Warum ich trotz bestandener Prüfung vor der | |
Schriftstellerei als akademischer Ausbildung zurückschreckte, ist eine | |
andere Geschichte. | |
Der beisitzende Treichel war mir damals nicht weiter aufgefallen, den | |
gräulichen Habitus des Sport-Erdkunde-Lehrers hat er bis heute beibehalten. | |
Allerdings kann Treichel, gerade wenn es um seine ostwestfälische Herkunft | |
geht, auch mal einen Spaß auf eigene Kosten machen. Weniger Spaß versteht | |
er, wenn er als Lehrer angegangen wird, wie es Anke Stelling tat. | |
## „Show, don't tell“ | |
Sie hatte bei Treichel am Literaturinstitut studiert; und als der die | |
Eingangspassage aus Peter Weiss’ „Abschied von den Eltern“ vorlas und das | |
von allen Schönschreibschulen promotete „Show, don’t tell“-Prinzip in | |
Zweifel zog – um das sich Peter Weiss eben einen Dreck geschert hatte –, da | |
konnte Stelling nicht an sich halten: „Warum haben Sie uns das denn nicht | |
schon in Leipzig gesagt?“, platzte es aus ihr heraus. Treichel wurde rot, | |
wie auch der Ostwestfale Karl-Heinz Rummenigge gerne rot wird, wenn ihm | |
eine kritische Frage gestellt wird. | |
Darauf bot Treichel seiner ehemaligen Schülerin ganz brechtisch an, die | |
Sache bei einem Boxkampf vor der Tür zu klären, und schob nach, was Lehrer | |
immer nachschieben: Nämlich dass man ihnen nicht alles glauben dürfe. Weil | |
ich ihnen gar nichts glaubte, war ich einst nicht nach Leipzig gegangen. | |
Und das gilt ja dann auch irgendwie für Peter Weiss. Ich bin für diese | |
Wiedervorlage noch nicht bereit, ich denke mit Schaudern zurück an die | |
harten Stunden im selbstverwalteten Seminar „Die Ästhetik des Widerstands | |
lesen“. Was vom Abend blieb, war Milo Raus Erstaunen über den | |
Erfolgsdramatiker Weiss, der seine Masche über den Haufen wirft und Stücke | |
aus Stoffen schneidet, die niemanden interessieren, bis er im großen | |
Alterswerk der „Ästhetik“ alles zusammenführt: Auch so eine Wiedervorlage | |
eben. Für mich jedoch spricht der Hausherr im Brecht-Haus halt immer noch | |
am schönsten: „Alles Neue ist besser als alles Alte.“ | |
24 Aug 2016 | |
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## AUTOREN | |
Ambros Waibel | |
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