# taz.de -- Kolumne Mittelalter: Jeff Bezos' neue Kleider | |
> Ein Münchner Buchändler giftet öffentlichkeitswirksam gegen Amazon. Kann | |
> man verstehen – aber guten Service muss man einfach lieben. | |
Bild: Service wie für Könige: Ein Amazon-Paket macht sich reisefein | |
Dass der Kunde König ist, wird wohl niemand bestreiten, der sich ernsthaft | |
daran macht, ein Geschäft zu betreiben – es sei denn natürlich, es handelt | |
sich um eine Führungskraft bei EasyJet, der Deutschen Post oder bei VW. | |
Umgekehrt gilt aber auch, dass Könige und höheres immer auch Kunden waren. | |
Im bekannten Märchen von „[1][Des Kaisers neue Kleider]“ etwa kommen | |
betrügerische Weber in die Stadt des eitlen Monarchen, stellen ihre | |
Webstühle auf und das Verhängnis – oder die Posse – nimmt seinen Lauf. | |
Wohlgemerkt: Die Mühe des sich-auf-den-Weg-Machens nimmt auf sich, wer | |
etwas verkaufen will – nicht derjenige, dem etwas zu erwerben im Sinn | |
steht. | |
Ein Münchner [2][Buchhändler] hat in diesen Tagen die Frage aufgeworfen | |
„Wieso kauft man Bücher über Amazon?“ und in den sozialen Medien aufgereg… | |
Zustimmung eingefahren für seine Feststellung „Amazon will die Welt | |
beherrschen“. | |
## Heute ein König | |
Nun weiß ich auch nicht genau, wieso man Bücher bei Amazon kauft. Ich weiß | |
aber, wie meine Freundin sich kürzlich eine neue Lederjacke gekauft hat: | |
Wie eine Königin. | |
Sie hat sich im Netz ein paar Lederjacken ausgesucht und sie sich nach | |
Hause liefern lassen. Dort hat sie sie in aller Ruhe anprobiert und einige | |
Tage wirken lassen, auf sich und auf andere. Dann hat sie eine behalten und | |
die anderen zurückgehen lassen. | |
Gegen dieses Vorgehen gibt es mancherlei Einwände, ökologische in erster | |
Linie, aber auch solche, die darin kein Jobwunder, sondern lediglich ein | |
neues Dienstleistungslumpenproletariat von abgehetzten Ausfahrern erkennen | |
mögen. | |
Meine Meinung ist, dass Autofahrten mit nur einem Insassen zumindest in der | |
Innenstadt verboten gehören – das Nähere kann ja dann wie immer ein Gesetz | |
regeln. Ich bin für einen Mindestlohn von mindestens 10 Euro in der Stunde | |
und unterstütze jede Forderung, welche die durch die Auslieferungsindustrie | |
verursachten Kosten nicht die Gesellschaft, sondern die Verursacher zahlen | |
lässt. | |
Aber: Jeder echte Schriftsteller will das beste aller Bücher schreiben. Und | |
jede echte Buchhändler sollte den besten Service bieten wollen. Wenn er | |
einen Wettbewerbsnachteil sieht, möge er sich nicht bei Amazon, sondern bei | |
seinem Lobbyverband, also dem Börsenverein beschweren – der übrigens einst | |
mit den studentischen Raubdruckern nicht gerade glimpflich umgegangen ist | |
–, damit der dann der Politik Beine macht. | |
Oder unser Buchhändler des Vertrauens muss eben seinerseits einen Ausfahrer | |
engagieren, der seine Produkte zur Ansicht ins Haus der Kunden liefert und | |
die nicht gewünschte Ware an der Tür wieder abholt. | |
Es gibt andere Modelle – etwa, dass Fachgeschäfte eine Beratungsgebühr | |
verlangen. Ob sie der Attraktivität der einst nur feudalen und | |
großbürgerlichen Klassen vorbehaltenen Nachhause-Lieferung damit etwas | |
entgegensetzen können? | |
## Das Ende der Geschichte | |
Verständliche Ausbrüche wie die des Münchner Buchhändlers schüren auf Dauer | |
nur buchkulturfremde Ressentiments. Einkaufen diversifiziert sich, in | |
Praxis, also Amazon&Co, und Erlebnis – da bekommt dann auch der kleine | |
feine Laden seine Chance. | |
Und überhaupt: Die Geschichte vom Kaiser und seinen Kleidern ist ja nicht | |
zu Ende erzählt (das haben gute Geschichten so an sich)! „Der Kaiser“, | |
heißt es Hans Christian Andersen, „kam selbst“ in die Werkstatt der | |
zugezogenen Betrüger! | |
In guten Geschichten geschieht nichts zufällig; und was wirklich erzählt | |
ist, lässt sich nicht in einer „Moral von der Geschicht'“ fassen. | |
Aber sein kann es natürlich, dass wir irgendwann durch unsere Stadt | |
flanieren werden, mit so einem diffus unguten Gefühl, bis plötzlich sich | |
eine Stimme der Unschuld erhebt und unter uns sich zischelnd die Botschaft | |
verbreitet, dass das hier ja wohl gar keine Stadt ist, sondern nur ein | |
abgestorbenes urbanes Konglomerat, durch dessen Straßen tausende von | |
Lieferwagen rauschen, vorbei an verrammelten Schaufensterscheiben. | |
23 Jun 2016 | |
## LINKS | |
[1] http://gutenberg.spiegel.de/buch/hans-christian-andersen-m-1227/114 | |
[2] http://www.stern.de/panorama/gesellschaft/amazon--muenchner-buchhaendler-sc… | |
## AUTOREN | |
Ambros Waibel | |
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