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# taz.de -- Debatte Terror und Angst: Deutschland einig Neurotikerland
> Angst vor Terroristen und Flüchtlingen ist zu unserer Staatsräson
> geworden. Das ist falsch. Wir müssen die Angst bekämpfen.
Bild: Vor dem Nebel liegt die Angst. Dahinter liegt möglicherweise ein klarer …
Angst ist dieser Tage salonfähig. Man könnte auch sagen:
social-media-kompatibel oder stammtischwürdig. Kein Tag vergeht, ohne dass
gewisse Ängste beschworen und hofiert werden, ganz so, als sei Angst die
herausragende Leistung unserer Epoche und unserer glorreichen Zivilisation.
Es sei in Ordnung, Angst zu haben, heißt es allenthalben. Ja, mehr noch:
Wer die herrschende Verzagtheit kritisiert, wird immer wieder aufgefordert,
die angeblich weit verbreitete Angst der Bürgerinnen und Bürger ernst zu
nehmen – als bestünde die Gesellschaft nur noch aus Neurotikern und
Psychoanalytikern.
Angst ist das neue Tamagotchi, das wir tätscheln und nähren sollen. „Sie
müssen diese Angst doch verstehen“, werden all jene zurechtgewiesen, die
einen Ausbruch in die politische Vernunft wagen.
Nein, nein, nein. Wir müssen Angst nicht verstehen! Im Gegenteil: Wir
müssen sie bekämpfen. Angst ist unsinnig, gefährlich, erbärmlich. Seit wann
wird der Pathologie der Angst derartige Relevanz zugesprochen, höchste
Priorität eingeräumt?
## Angst muss man nehmen
Wenn Kinder Angst vor der Dunkelheit haben, versuchen die Eltern, ihnen
diese Angst zu nehmen und lassen nicht das Licht die ganze Nacht brennen,
ein Leben lang. Wenn jemand Schritttempo auf den Autobahnen fordern würde,
aus Angst vor weiteren tödlichen Auffahrunfällen, würde man ihn auslachen.
Wer volle Klubs oder Stadien meidet, weil er Angst hat, erdrückt zu werden,
wird mitleidsvoll beäugt.
Angst ist nicht nur unvernünftig, sondern auch höchst selektiv. Der Angst
vor dem Terrorismus – statistisch gesehen eine geradezu absurde Befürchtung
– , wird der rote Teppich der Hochachtung ausgerollt, andere Ängste, etwa
vor dem sozialen Absturz oder vor Unfällen am Arbeitsplatz, werden hingegen
heruntergespielt. Vor Jahren erzählte mir ein Minenarbeiter, er schaffe es
nur, in den Fahrstuhl zu steigen, wenn er mehrere Schnäpse gekippt habe. Es
wurde aus Staatsräson einfach von ihm erwartet, dass er seine Ängste
überwindet.
Heute wird einem aus Staatsräson nahegelegt, sich wegen Terroristen und
Flüchtlingen in die Hosen zu machen. Der Grund ist klar: Es gibt opportune
und weniger opportune Ängste. Und die Angst vor den Terroristen fördert den
Ausbau des Sicherheitsstaats und den Abbau bürgerlicher Rechte, was – wie
ein kursorischer Blick in die Geschichte bestätigt – wiederum reichlich
Grund bietet, tatsächlich Angst zu haben.
## Auf der Hängebrücke
Vor Jahren stand ich mit einem Freund und seiner Frau auf einer
Hängebrücke, die über eine Schlucht führte. Die Brücke wackelte, war aber
völlig sicher. Zwischen subjektiver und objektiver Gefahr klaffte dennoch
ein Abgrund: Die Frau meines Freundes bekam eine Panikattacke. Wir konnten
sie nicht dazu bewegen, einen weiteren Schritt zu gehen, weder vorwärts
noch rückwärts. Nach einigen Schritten verkrampfte sie total, krallte sich
ans Seil, das als Geländer fungierte, und erstarrte auf der Brücke.
Argumente halfen nicht weiter, gutes Zureden auch nicht.
Wir mussten die von Panik vollkommen gelähmte Weggefährtin am Ende mittels
körperlichem Zwang dazu bringen, die Brücke zu überqueren, um sie und uns
zu schützen. Eine Situation, in der wohl niemand auch nur daran gedacht
hätte, uns zuzurufen: Ihr müsst ihre Angst verstehen! Besonders pervers ist
die Angst des Elefanten vor der Maus. Ich weiß nicht, wie oft ich in den
letzten zwei Jahren lesen oder hören musste, die Deutschen hätten
verständlicherweise Angst vor den vielen Flüchtlingen. Müsste diese
Übertreibung nicht sofort mit dem Hinweis auf die Angst der Flüchtlinge
entlarvt werden?
Dabei sind es doch die Flüchtlinge, die alles verloren haben; sie sind
traumatisiert, sie sind umgeben von fremden Gesetzen und unverständlichen
Sätzen, sie sind dem Wohl und der Gnade anderer völlig ausgeliefert. Und
doch haben die gut genährten, überwiegend abgesicherten und relativ
wohlhabenden Einheimischen angeblich Angst. Das ist doch ein Hohn!
## Verlogener Selbstschutz
Diese Umkehrung der Verhältnisse wäre einfach nur lachhaft, führte sie
nicht eine alte Konstante fort: die „Angst“ der Weißen vor den Fremden, vor
den Barbaren, vor den Schwarzen. Eine Angst, die wie viele Ängste immer
wieder instrumentalisiert worden ist, um gegen die Schwachen aggressiv
vorgehen zu können, in einer Art vermeintlichem (und verlogenem)
Selbstschutz.
Die Argumente aus dem 19. Jahrhundert, die zu imperialer Unterdrückung und
teilweise zum Genozid geführt haben, erfahren dieser Tage eine grässliche
Renaissance. Das deutsche Volk gelte es zu schützen, heißt es. Gegen die
Schwächsten und Ärmsten, die zwar objektiv betrachtet völlig machtlos sind,
aber im phantasmagorischen Inkubator hochgezüchteter Ängste eine
apokalyptische Gefahr darstellen.
Die Angst vor einer vermeintlichen Islamisierung speist sich nicht aus
konkreten Erfahrungen mit Muslimen, sondern aus dumpfen Verlustgefühlen,
die ganz andere Ursprünge haben und sich unter der Hand in
ausländerfeindliche Ressentiments verwandeln. Es ist, als wäre Angst das
„Opium des Volkes“, eine Abwendung von Freiheit und Autonomie, eine
Selbstbenebelung.
In Shakespeares „Julius Caesar“ sagt Caesar, kurz bevor er getötet wird,
den unsterblichen Satz: „Der Feige stirbt schon vielmal, eh’er stirbt, /
Die Tapfern kosten einmal nur den Tod.“
Was wäre es schön, wenn wir die alte Tugend der Tapferkeit wieder
entstauben würden.
12 Oct 2016
## AUTOREN
Ilija Trojanow
## TAGS
Angst
Terrorangst
Terror
Peter Weiss
Tatjana Festerling
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