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# taz.de -- Essay Krise der westlichen Welt: Lehren aus Russland
> Die liberale Ordnung könnte sich genauso schnell auflösen wie einst die
> UdSSR. Triumphiert dann ein xenophober Populismus?
Bild: Der Lack ist ab: Auch die Sowjetmacht galt mal als unveränderbar
Unterhalb der mittelalterlichen Zitadelle von Kasan ziehen sich zwei
zugefrorene Flussläufe als breite weiße Bahnen durch die Landschaft. Am
Samstagnachmittag stapfen nur wenige hartgesottene Anwohner durch den
frostigen Schneematsch. Sie sind damit beschäftigt, vor der Moschee, den
Weihnachtslichtern und den Standbildern aus der Sowjetzeit Selfies zu
schießen.
Vor 25 Jahren war ich zum letzten Mal in Russland. Damals, in der
chaotischen Anfangsphase der Jelzin’schen Wirtschaftsreformen, scheiterten
alle meine Versuche, die Linke wiederzubeleben. Nun, ein halbes Leben
später, will ich vor einer kleinen Versammlung darüber reden, wie man den
Kapitalismus durch etwas Besseres ersetzen könne.
Und plötzlich haben wir etwas gemeinsam: Inzwischen weiß auch ich, wie es
aussieht, wenn ein scheinbar dauerhaftes System ins Wanken gerät.
Seit meiner Ankunft haben meine Vorträge vor allem Leute besucht, die sich
mit zeitgenössischer Kunst oder Philosophie beschäftigen. Interviewt wurde
ich – bekannt als Kritiker von Putins Politik in Syrien und der Ukraine –
meist von kulturellen Zeitschriften. Sie bilden nicht unbedingt die
gesellschaftliche Avantgarde, aber bieten derzeit am ehesten einen sicheren
Raum für die Verbreitung kritischen Denkens.
## Traditionsreiche Repression
Seit Putin die Parlamentswahl von 2011 fälschte und die aufkommende
Protestbewegung unterdrückt wurde, haben sich deren junge Anhänger in ein
trotziges Schweigen zurückgezogen. Russischen Intellektuellen ist eine
solche Situation durchaus vertraut. Lenin wurde 1887 in Kasan festgenommen,
weil er eine Studentendemonstration angeführt hatte. Er verbrachte die
folgenden dreißig Jahre im Exil oder im Untergrund. Danach unterdrückten
die Bolschewiki siebzig Jahre lang die Meinungsfreiheit und jede politische
Opposition. Heute geben Russlands kapitalistische Oligarchen ihr Bestes, um
die Repression fortzusetzen.
Warum halten russische Künstler, Philosophen und Journalisten trotz dieser
schlechten Erfahrungen daran fest, dass sich die Dinge ändern können? Die
kurze Antwort lautet: Weil sie den moralischen und politischen Kollaps der
doch angeblich unsterblichen Sowjetunion erlebt haben.
Alexei Yurchak, ein Anthropologe an der Universität von Kalifornien in
Berkeley, beschrieb 2005 jene Ereignisse in einem Buch, dessen Titel für
sich spricht. Übersetzt lautet er: „Alles war für immer, bis es nicht mehr
da war“. Yurchak war davon fasziniert, dass zwar niemand den Kollaps
vorhergesagt hatte, viele sich jedoch hinterher eingestanden, dass sie ihn
in ihrem Innersten schon lange kommen gesehen hatten.
In der Ära der Perestroika unter Gorbatschow erlebten viele in Russland
einen „Bewusstseinsbruch“, als offensichtlich wurde, dass der Zusammenbruch
der Sowjetunion unvermeidbar war. Aber bis dahin verhielten sich die
meisten Leute so – und sie redeten und dachten gar so –, als ob das
Sowjetsystem alles überdauern würde. Auch wenn sie das System wegen seiner
Brutalität verachteten, gingen sie auf die Paraden, nahmen an Versammlungen
teil und absolvierten all die Rituale, die der Staat ihnen abverlangte.
## Vergleichbarer Kollaps vorstellbar
Seit Trumps Wahlsieg im November 2016 ist es vorstellbar geworden, dass dem
Westen, der Globalisierung und unseren Freiheitswerten ein vergleichbarer
Kollaps widerfährt.
Die Parallelen sind offensichtlich. Wir leben seit dreißig Jahren in einem
Wirtschaftssystem, das sich für alternativlos hielt. Die Globalisierung
galt als unaufhaltsamer natürlicher Prozess, die freie Marktwirtschaft
schlicht als die vorgegebene Normalität.
Aber wenn das Land, das die Regeln der Globalisierung festlegte, sie
durchsetzte und von ihr am meisten profitierte, sich in einer Wahl gegen
sie entscheidet, muss man sich mit der Möglichkeit auseinandersetzen, dass
sie gestoppt wird, womöglich gar abrupt. Falls dem so ist, muss man sich
gar mit einer noch schockierenderen – zumindest für liberale, humanistische
Demokraten – Möglichkeit auseinandersetzen: dass Wirtschaftsversagen
zwangsläufig in oligarchischen Nationalismus mündet.
Als Jelzin Anfang der Neunzigerjahre das Land in den Mangel und die Pleite
steuerte, erlebte ich mit, wie die russische Gesellschaft ins Chaos
abglitt. Wir hielten unsere Treffen in den aufgegebenen Fakultäten der
stalinistischen Akademiker ab, zwischen nutzlos gewordenen sowjetischen
Lehrbüchern, Leninbüsten und Protokollen von Zentralkomitees, die nicht
mehr existierten. Auf den Straßen herrschte Gewalt, in den Vorstandsetagen
der russischen Rohstoffmonopolisten die Raffgier. Diese Unternehmen fielen
in die Hände der Kleptokraten, die den größten Druck ausgeübt hatten.
## Ideologischer Schock
Im Vergleich zum Chaos der Neunzigerjahre fühlte sich der Putinismus wie
eine Erlösung an. Putin hat demokratische Rechte unterdrückt und Russland
diplomatisch isoliert, aber er brachte auch die Wirtschaft auf
Wachstumskurs und stellte wieder eine Ordnung und den Nationalstolz her.
Nun finden wir überall auf der Welt Mini-Putins: den ungarischen
Ministerpräsidenten Viktor Orbán, den türkischen Staatschef Recep Tayyip
Erdoğan und die französische Möchtegern-Präsidentin Marine Le Pen. Falls
sich deren Wunsch erfüllt, und der Westen in ökonomischen Nationalismus
zurückfällt, werden alle unter fünfzig den gleichen ideologischen Schock
erleben wie die Russen Ende der Achtziger.
Drei Jahrzehnte lang waren sich Volkswirtschaftler, Politologen und
Experten für internationale Beziehungen einig, dass unsere bestehende
gesellschaftlich-politische Ordnung in Stein gemeißelt sei. Doch falls sich
herausstellt, dass die Globalisierung umkehrbar und somit ein befristetes
Phänomen ist, müssen die anerkannten Lehrbücher – so wie einst die der
sowjetischen Akademiker – neu geschrieben werden.
Es gibt allerdings einen gewichtigen Unterschied: Die Dissidenten der
späten Sowjetzeit kämpften für Demokratie und Menschenrechte, wie sie
allgemein „im Westen“ verstanden wurden. Sollte aber der xenophobische
Populismus triumphieren, wird es für uns keinen „Westen“ als Vorbild geben.
Sobald liberale demokratische Gesellschaften mehr und mehr wie Orbáns
Ungarn aussehen, gibt es keine äußere Macht mehr, die uns helfen kann.
Unsere letzte große Hoffnung sind wir selbst. Und wir sind zahlreich genug,
um den zweiten großen Kollaps und die Hinwendung zu Oligarchismus und
Nationalismus zu stoppen. Wir sind vernetzt, bewusst, gut ausgebildet und –
bislang – psychologisch widerstandsfähig. Wenn wir uns zusammenschließen
und Widerstand leisten, können wir eine Menge von denen lernen, die dies
ohne großes Aufhebens in Russland tun. Die junge Generation der
Putin-Kritiker mag nach außen Zynismus und Erschöpfung demonstrieren und
sich in die Abstraktion flüchten, aber sie glaubt unbeirrt an die
Veränderbarkeit der Dinge.
Übersetzung aus dem Englischen von Stefan Schaaf
18 Dec 2016
## AUTOREN
Paul Mason
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