# taz.de -- ARD-Doku über deutschen Antisemitismus: Täter ohne Namen | |
> Er ist da. Mal verdeckt, mal offen. Immer bedrohlich. In der Doku „Jude. | |
> Deutscher. Ein Problem?“ fragt Uri Schneider nach Antisemitismus. | |
Bild: Ausgesöhnt? Klar, Israel und Deutschland sind heute Freunde. Antisemitis… | |
In Wuppertal traue sich keiner der in der Stadt lebenden 2.000 Juden, in | |
der Öffentlichkeit eine Kippa zu tragen, sagt Leonid Goldberg, der | |
Vorsitzende der dortigen jüdischen Gemeinde. Und Sascha Stawski, der in | |
Frankfurt mit seinem Blog „Honestly Concerned“ stereotype und tendenziöse | |
Berichterstattung über Israel aufgreift, möchte nicht, dass im Fernsehen | |
das Gesicht seines Sohnes zu sehen ist. Auch der Vorname des Kindes soll | |
nicht genannt werden. | |
Das seien nur zwei Indizien dafür, dass in Deutschland der Antisemitismus | |
immer noch eine „kollektive Bewusstseinskrankheit“ beziehungsweise | |
„integraler Bestandteil“ der Kultur sei. So formuliert es Julius H. | |
Schoeps, Direktor des Zentrums für europäisch-jüdische Studien an der | |
Universität Potsdam, in der Dokumentation „Jude. Deutscher. Ein Problem?“, | |
die die ARD heute für Spätwachbleiber zeigt. | |
Der Wissenschaftler Schoeps weist in dem Film des deutsch-israelischen | |
Autors Uri Schneider auf eine Besonderheit bei der Aufarbeitung des | |
Holocausts an kleineren Orten hin: Die Opfer haben Namen, die Täter in der | |
Regel nicht. Schoeps erzählt zum Beispiel von Gedenkausstellungen, bei | |
denen er Akten gesehen habe, in denen die Namen der Täter geschwärzt seien. | |
Ein weiterer Themenstrang ist der Zuzug junger Israelis nach Deutschland. | |
Die dritte Generation der Holocaust-Überlebenden sieht sich, anders als | |
ihre Vorfahren, in der Lage, im Land der Mörder zu leben. Als Beispiel | |
dafür dienen im Film die Betreiber des Gordon in Berlin-Neukölln, einer | |
Mischung aus Café und Plattenladen. Doron Eisenmann, einer der beiden | |
Gastronomen, sagt, er spüre in diesem Viertel keinen Antisemitismus. Die | |
Romanautorin Mirna Funk, die in ihrem Debütroman „Winternähe“ den „norm… | |
Antisemitismus der deutschen Mitte“ (Schneider) aufgreift, hält dagegen, | |
das sähen viele in Berlin lebende Israelis nur deshalb so, weil sie die | |
deutsche Sprache nicht verstünden. | |
## Antisemitismus in Berlon-Neukölln? Nur auf deutsch! | |
Die groteskeste Passage in „Jude. Deutscher. Ein Problem?“ geht auf eine | |
Interviewanfrage Schneiders zurück: Er nimmt Kontakt auf zu einem Mann, der | |
für einen Brandanschlag auf die Synagoge in Wuppertal nur eine | |
Bewährungsstrafe bekommen hat. Der Anwalt des Täters schlägt ein | |
Interviewhonorar von 500 Euro vor. Als Schneider dem Attentäter bei einem | |
Treffen deutlich macht, dass das überhaupt nicht in Frage kommt, sucht der | |
sofort das Weite. | |
Optisch ist Schneiders Film geprägt von – teilweise dezent animierten | |
Schwarz-Weiß-Zeichnungen des Künstlers Jörn Peper. Der Filmemacher nutzt | |
die Illustrationen, um Aussagen seiner Interviewpartner zu ergänzen. Er ist | |
allerdings ein bisschen zu sehr zu vernarrt in dieses Stilmittel. | |
Warum er Passagen aus Mirna Funks Roman in Form von Comicpassagen | |
veranschaulicht, erschließt sich zum Beispiel nicht. Schneiders Film ist | |
inhaltlich sehr verdienstvoll, umso mehr stören solche formalen Defizite. | |
Auch sprachliche Nachlässigkeiten schmälern den Gesamteindruck. „Was vielen | |
Juden heute mehr unter den Nägeln brennt als die Erinnerungskultur in | |
Deutschland, ist der islamische Fundamentalismus“, heißt es an einer | |
Stelle. In einer anderen Passage muss der Berliner Rabbiner Daniel Alter | |
zweimal fast dasselbe sagen, weil der Autor oder seine Redaktion glauben, | |
man müsse Zuschauern, die um 23.30 Uhr eine Dokumentation einschalten, den | |
Begriff „No-go-Area“ erklären. | |
## Solide statt sehr gut | |
Zudem franst der Film am Ende aus: Obwohl er in Deutschland starke | |
Protagonisten gefunden hat, macht Schneider einen Abstecher nach Paris. Er | |
trifft den Sohn und die Schwiegertochter des Wuppertaler | |
Gemeindevorsitzenden, die dort leben, auch deren Freunde kommen zu Wort. | |
Fazit: „Jude. Deutscher. Ein Problem?“ ist ein sehr solider Film über ein | |
sehr wichtiges Thema, und das ist schade, weil es nicht allzu viel bedurft | |
hätte, um daraus einen sehr guten Film zu machen. | |
26 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
René Martens | |
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