# taz.de -- Kunst des „Interrealismus“: Iskin versus Apple | |
> Seit dem vergangenen Jahr häufen sich Berichte über den 26-jährigen | |
> Alexander Iskin. Zu den Förderern des Künstlers zählt Jonathan Meese. | |
Bild: „Ich will Apple töten“, sagt Alexander Iskin etwas kryptisch | |
Berlin taz | Alexander Iskin umrundet schnellen Schrittes die | |
Tischtennisplatte in seinem Atelier. Darauf steht etwas, das so aussieht | |
wie ein iMac. Ein aus Holz gebautes Computerdisplay rahmt sein Gemälde. Ein | |
Prototyp. Alexander Iskin arbeitet an seiner vierten „Show“, wie er seine | |
Ausstellungen nennt. | |
Lockige Haare, große braune Augen. Alexander Iskin ist ein Ziehsohn der | |
Künstler Herbert Volkmann und Jonathan Meese. Als 26-Jähriger gehört er zur | |
jüngeren Generation Berliner Künstler. Seit vergangenem Jahr berichten | |
Medien über ihn. Alexander Iskin kam als russisch-jüdisches Kind nach | |
Deutschland, spielte sein halbes Leben professionell Tischtennis. | |
In einer Boulevardzeitung hat er seine eigene Kunstrichtung ausgerufen – | |
den „Interrealismus“. Der digitale Dauerkonsum habe die Wirklichkeit der | |
Menschen so stark beeinflusst, dass sie sich kaum noch für das Reale | |
interessierten. Die Folge: die Abkehr vom Beständigen, vom Bleibenden, wie | |
etwa der Kunst. | |
„Ich will Apple töten“, sagt er etwas kryptisch. Der Weg dahin: Gemälde in | |
Displays von nachgebauten Smartphones, Computern und Tablets. Unter den | |
Displays eingraviert: „Interreality“. Auf seiner Show werden weiß | |
gekleidete Verkäufer seine „Smartphones“ verkaufen. | |
Auf den Gemälden von Iskin erkennt man konkrete Figuren, gleichzeitig wilde | |
Abstraktion. Farbflächen und Wesen prallen ohne Harmonie aufeinander. Er | |
bannt in mehren Schichten seine Realitäten auf die Leinwand. | |
## Das Zentrum für Interrealismus | |
Mit seiner eher simplen Gesellschaftskritik und seinem Übertreiben im | |
Ausdruck schlägt er gleich auf zwei Seiten ein: den Kapitalismus und die | |
Kunstszene selbst. „Die Ernsthaftigkeit der Kunst ist manchmal | |
unerträglich“, sagt er. | |
Das Zentrum des Interrealismus steht am Berliner Stadtrand. Ein Sammler und | |
Gönner ermöglichte dem damals mittellosen Alexander Iskin, eine leere Etage | |
neben einer Backfabrik in Alt-Mariendorf zu beziehen. Seit 2013 arbeitet er | |
nun in den ehemaligen Räumen einer Speditionsfirma. Das Großraumbüro, drei | |
Fensterseiten spenden Licht, hat der Maler umfunktioniert zu einer | |
Großraumwerkstatt. Auf grauem Teppichboden finden sich Hunderte kleine | |
Dinge: Fuchsfelle, russische Tassen, Tischtennisbälle, DVDs, Bücher. | |
Dazwischen steht seine Kunst, die fertige an die Wand gelehnt, die | |
unfertige auf dem Boden. Hinter Glaswänden lebt er hier in einer | |
Wohngemeinschaft mit dem Schauspieler und Filmemacher Henning Gronkowski, | |
der ein Stockwerk tiefer gerade einen Independentfilm dreht. | |
Heute hat sich das Sammlerpaar Ingrid und Thomas Jochheim angekündigt. | |
Alexander Iskin wechselt noch schnell seine Tupac-Leggins gegen eine | |
schlichte schwarze Jeans und öffnet pünktlich um zwei Uhr seine Tür für das | |
wohlhabende Ehepaar. | |
„Eins habt ihr Künstler alle gemeinsam: Keiner räumt auf“, sagt Ingrid | |
Jochheim. Alle drei lachen. „Du brauchst dich dafür nicht entschuldigen“, | |
schiebt sie nach. Mit blauem Blazer und funkelnden Steinchen auf den | |
Schuhen tritt sie durch Nacktfotos und Aschenbecher. Die beiden schauen | |
sich alles an, bleiben vor dem neuen Mac-Objekt stehen und neigen den Kopf | |
zur Seite. „Das wäre vielleicht was für einen unserer Bekannten.“ | |
Die Jochheims sammeln seit 30 Jahren Kunstwerke. Ein Teil ihrer 600 Gemälde | |
stammt von jungen, eher unbekannten Künstlern. „Wir kaufen grundsätzlich | |
nur das, was uns gefällt, und das wollen wir dann auch behalten“, sagt | |
Thomas Jochheim. | |
## Alexander Iskin hat nie eine Kunsthochschule besucht | |
Es ist das erste Mal, dass sie Alexander Iskin im Zentrum des | |
Interrealismus besuchen. Erst ein Bild hat das ehemalige Unternehmerpaar | |
von ihm. Ob sie sich mit seiner Gesellschaftskritik beschäftigen, weiß er | |
nicht. Dabei ist das ein Großteil seines Schaffens. Jeden Morgen, wenn er | |
aufsteht, liest er mehrere Stunden Nachrichten, schaut Videos, soziale | |
Netzwerke, Fotos. „Ich guck mir den ganzen Scheiß an.“ Für die Kunst opfe… | |
er sich, und das meint er ernst. Alle Realitäten, die er dann wahrgenommen | |
hat, alles was ihn bei seinem digitalen Konsum beeinflusst hat, fließt am | |
Nachmittag in seine Malerei. | |
Überhaupt, das Malen. Alexander Iskin hat nie eine Kunsthochschule besucht. | |
In Düsseldorf und Berlin wurde er abgelehnt. Aufgewachsen ist er in Goslar. | |
Als er zwei Jahre alt war, flohen seine Eltern, ein Mathematiker und eine | |
Geigerin, von Russland in die bergige Kleinstadt im Harz. | |
2010 lernte er die Kunstgröße Jonathan Meese und dessen Freund, ebenfalls | |
ein Künstler, Herbert Volkmann, bei einer Ausstellung in Goslar kennen. Die | |
beiden waren begeistert vom jungen Talent und holten ihn nach Berlin. | |
Herbert Volkmann wurde von da an sein Mentor. Doch der Lehrer brauchte | |
selbst Hilfe: Herbert Volkmann war zeit seines Schaffens verdrogt. Heroin. | |
Alexander Iskin lebte eine Zeit in seinem Atelier, wollte seinem Freund | |
helfen, sich von den lähmenden Substanzen zu befreien. „Ich bin das | |
Instrument der göttlichen Offenbarung und befehle Dir bis Montag zu Hause | |
zu bleiben. Der Tod ist sonst nicht mehr die ständige Möglichkeit, sondern | |
die bevorstehende Wirklichkeit. Es gibt ein Zurück, du schaffst das“, | |
schrieb Iskin in einer der vielen Nachrichten, die er bis heute behalten | |
hat. Für Herbert Volkmann gab es ein Zurück. Die letzten Monate seines | |
Lebens verbrachte er drogenfrei, auch dank Alexander Iskin. Er starb 2014 | |
an den Folgen des Junks. | |
Seitdem ist Alexander Iskin auf der Suche. Volkmann gibt ihm noch immer | |
Sicherheit. „Ich hatte nicht einen Moment, in dem ich dachte, er würde | |
fehlen. Er ist immer präsent.“ Alexander Iskin steht in der Galerie | |
Sexauer. Mit seiner rosa Vespa ist er 45 Minuten zum Prenzlauer Berg | |
gefahren. Der Motorradhelm hat sein wildes Haar plattgedrückt. „Alexander | |
hat eine Wachheit, eine Sensibilität“, sagt der Galerist Jan-Philipp | |
Sexauer. „Er ist sorglos spielerisch und gleichzeitig reif.“ | |
## Jude, kein Jude, religioder Designer | |
Der ehemalige Anwalt, der seine Galerie erst vor wenigen Jahren eröffnete, | |
gehört zu Iskins wichtigsten Bezugspersonen. Mehrmals die Woche ruft er ihn | |
an. Alexander Iskin ist der Jüngste, den er ausstellt. | |
Im Oktober plant er die Ausstellung zum 30. Todestag von Joseph Beuys. | |
Christoph Schlingensief und andere Beuys-Verehrer sind eingeplant, auch | |
Alexander Iskin wird etwas beisteuern. | |
Die Sonne geht unter und Alexander Iskin sitzt auf dem Dach der Fabrik. Er | |
schaut auf das angrenzende Marienfelde. Eine Fabrikhalle nach der anderen | |
kann er von hier oben sehen. Neulich erfuhr er, dass es in Marienfelde ein | |
Notaufnahmelager für Flüchtlinge gab. Er selbst kam als Flüchtling. | |
Alexander Iskin ist Jude. „Bin ich nicht“, sagt er und klingt das erste Mal | |
wirklich ernsthaft und bestimmt. Im Juli porträtierte die Schriftstellerin | |
Mirna Funk jüdische Kulturschaffende in Deutschland. Sie erwähnt auch | |
Alexander Iskin, schreibt von „Wut und Angst“, dem tiefgreifenden | |
Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft. | |
Alexander Iskin will das nicht hören. Er hat kaum jüdische Freunde, befolgt | |
keine jüdischen Regeln. Er definiert sich nicht als Jude. Wie dann? „Ich | |
bin ein religioder Designer“, sagt er etwas rätselhaft. Das hat er irgendwo | |
gelesen. Der von ihm designte Interrealismus funktioniere doch fast wie | |
eine Religion, die sämtliche Perspektiven vereine. Dann schüttelt er den | |
Kopf und wird wieder ernst: „Ich will nicht nach hinten schauen“, sagt er. | |
„Russland ekelt mich an.“ Mit seiner russisch-jüdischen Herkunft will er | |
sich nicht politisch instrumentalisieren lassen. | |
Als Alexander Iskin im vergangenen Jahr den Interrealismus in einer | |
Berliner Boulevardzeitung ausrief, fragten ihn befreundete Künstler, ob er | |
das denn wirklich alles ernst meine. | |
Soll man Alexander Iskin ernst nehmen? Man sollte. Alexander Iskin, will | |
man ihn ernst nehmen, versteht die eigene Inszenierung als Teil seiner | |
Kunst. Im Beuys’schen Sinne darf er unter dem Denkmantel des „erweiterten | |
Kunstbegriffs“ auch seine eigene Religion erfinden. | |
Wenn er etwas von Volkmann gelernt habe, dann, „dass Kunst und Leben viel | |
miteinander zu tun haben“. Wenn Alexander Iskin eine Fliege sieht, denkt er | |
an Volkmann. Dem waren die Insekten immer ein dankbares Motiv für seine | |
rauschende Kunst. Das rote Licht der Abenddämmerung scheint auf Iskins | |
Gesicht. Alexander Iskin bemerkt die Fliege in diesem Moment nicht, die | |
sich auf seine Schulter gesetzt hat. Aber sie ist da und sie wird immer | |
wiederkommen. | |
25 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Timo Lehmann | |
## TAGS | |
Joseph Beuys | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Fotografie | |
Literatur | |
Antisemitismus | |
Berliner Volksbühne | |
Joseph Beuys | |
Zentrum für Politische Schönheit | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Britischer Alltag in der Fotografie: Proletarische Tauben im Hyde Park | |
Isabelle Graeffs Fotoserie „Exit“ in der Galerie Sexauer ist eine | |
melancholische Studie über den britischen Alltag. Noch vor dem Brexit. | |
Willy Fleckhaus-Ausstellung in Köln: Klarheit schaffen | |
Der Journalist und Designer Willy Fleckhaus war ein hemmungsloser | |
Bildbeschneider. Aber auch ein Gestalter der jungen Bundesrepublik. | |
ARD-Doku über deutschen Antisemitismus: Täter ohne Namen | |
Er ist da. Mal verdeckt, mal offen. Immer bedrohlich. In der Doku „Jude. | |
Deutscher. Ein Problem?“ fragt Uri Schneider nach Antisemitismus. | |
Kulturstaatssekretär Renner über Berlin: „Subkultur ist in der DNA Berlins�… | |
Kulturstaatssekretär Tim Renner spricht über Volksbühne, Staatsballett, | |
seine Zukunft nach dem Wahlsonntag – und lobt Die Linke. | |
Joseph Beuys im Hamburger Bahnhof: Die Utopie im Schauunterricht | |
Ein kulturhistorischer Parcours mit Beuys: Im Hamburger Bahnhof ist seine | |
„Kapital“-Installation erstmals in Berlin zu sehen. | |
Zentrum für Politische Schönheit: Krasser Scheiß | |
Wer sich Kampagnen wie „Flüchtlinge fressen“ ausdenkt, der hat sich von der | |
Verrohung der Flüchtlingspolitik anstecken lassen. |