| # taz.de -- Bremer Mahnmal für russische Juden: Ein Ort für mitgebrachte Erin… | |
| > In Bremen gibt es jetzt ein Mahnmal für die Traumata der russischen | |
| > Juden, die in den hiesigen jüdischen Gemeinden inzwischen oft die | |
| > Mehrheit stellen | |
| Bild: Ein Stein der Erinnerung: Bremens russischstämmige Juden haben nun ihren… | |
| Ein trüber Novembersonntag im Nieselregen. Nur wenige Autos stehen auf dem | |
| Parkplatz vor dem Neuen Jüdischen Friedhof in Bremen. Menschen, | |
| hauptsächlich alte, gehen geduckt unter ihren Regenschirmen und mit | |
| hochgeschlagenen Jackenkragen den schmalen Weg hinauf zur Trauerhalle. | |
| An der Friedhofsmauer, gleich hinter dem Tor, ist eine kleine Box befestigt | |
| mit schwarzen Kippot für die männlichen Gäste. Manche nehmen sich eine im | |
| Vorbeigehen, andere haben ihre eigene dabei; im Übrigen tun es auch | |
| Pudelmützen oder Elbsegler, Hauptsache, der Hinterkopf ist bedeckt. | |
| Dass vor dem Eingang zur Trauerhalle ein Polizist steht, ist traurige | |
| Normalität an jüdischen Einrichtungen in Deutschland – die Polizei muss | |
| jüdische Kindergärten bewachen, Schulen, Synagogen. Normalität, die nicht | |
| normal sein dürfte. Bremen bildet da keine Ausnahme, im Gegenteil: | |
| „Antisemitismus ist tägliche Realität in dieser Stadt“, sagt | |
| Bürgerschaftspräsident Christian Weber später in seiner Rede vor der | |
| jüdischen Gemeinde. | |
| Auch wenn der Senat auf eine Anfrage der Grünen gerade wieder festgestellt | |
| hat, der Antisemitismus sei in Bremen nicht schlimmer als anderswo. Seit | |
| Benjamin Weinthal Bremen in der Jerusalem Post eine Hochburg des | |
| Antisemitismus genannt hat, sind solche Selbstvergewisserungen wichtig | |
| geworden. | |
| Aber was heißt das schon? Im Zweifel doch nur, dass es woanders genau so | |
| schlimm ist. Dass hier wie dort jüdische Friedhöfe geschändet werden. Dass | |
| antisemitische Boykott-Aktionen vor Supermärkten stattfinden. Dass auf | |
| Demonstrationen „Kindermörder Israel“ skandiert wird und dass auf | |
| Schulhöfen „Du Jude!“ sich als Schimpfwort etabliert hat. Beschämend sei | |
| es, sagt Christian Weber, dass jüdische Gebete von Polizisten geschützt | |
| werden müssten. | |
| Die Reden und Gebete, die auch an diesem trüben Novembersonntag von der | |
| Bremer Polizei geschützt werden müssen, erinnern einmal mehr an die | |
| jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. Die Gemeinde enthüllt heute einen | |
| Gedenkstein. Er erinnert auch an die vielen Familienangehörigen der | |
| Gemeindemitglieder, die etwa bei dem Massaker durch deutsche SS 1941 im | |
| ukrainischen Babij Jar, aber auch als Partisanen in Ghettos oder als | |
| Angehörige der sowjetischen Armee ihr Leben verloren. | |
| Die kleine Bremer Trauerhalle füllt sich schnell, Gemeindemitglieder und | |
| Gäste strömen in den Raum, suchen sich einen Platz auf den Bänken. Die | |
| Halle bietet rund 80 Besuchern Platz. Immer wieder gibt es Verwirrung um | |
| die Sitzordnung: Die Jüdische Gemeinde in Bremen ist orthodox geprägt, | |
| Männer und Frauen sitzen getrennt. Doch nicht jeder Gast ist mit der | |
| Sitzordnung vertraut. Manche setzen sich zunächst dort, wo noch Platz ist. | |
| Die meisten reagieren mit einem entschuldigenden Lächeln, wenn sie gebeten | |
| werden, sich umzusetzen, und wechseln schnell den Platz. | |
| „Ich würde am liebsten sofort wieder gehen“, zischt da ein Mann mittleren | |
| Alters seiner Frau zu, als auch er gebeten wird, sich auf die andere Seite | |
| zu setzen. Ist er ein liberaler Jude oder ein besonders | |
| unangenehm-prinzipienfester Nichtjude? Oder gar ein Antisemit? Das | |
| Unbehagen ist spürbar, niemand sagt etwas, und der Mann wechselt grollend | |
| die Seiten. | |
| Die ursprünglich beabsichtigte Trennung der Geschlechter erweist sich | |
| später ohnehin als obsolet, so voll ist es geworden in der kleinen | |
| Trauerhalle. Überall drängen sich die Menschen, und es kommt nicht mehr | |
| darauf an, wer auf welcher Seite steht. | |
| Kopfhörer werden verteilt, zwei Simultanübersetzer stehen vorne bereit: Auf | |
| Kanal eins gibt es die hebräisch-deutsche Übersetzung, auf Kanal zwei die | |
| hebräisch-russische. Die Bremer Gemeinde besteht zu einem großen Teil aus | |
| MigrantInnen, die aus der ehemaligen Sowjetunion stammen und ab 1991 nach | |
| Bremen übergesiedelt sind. | |
| Viele von ihnen haben Angehörige im Krieg verloren, haben in der | |
| sowjetischen Armee gekämpft, haben beim Vormarsch auf Deutschland | |
| Konzentrationslager befreit und dabei Unbegreifliches erlebt. In der | |
| Sowjetunion aufgrund ihres Glaubens diskriminiert, machten sie nach deren | |
| Ende „das Land ihrer ehemaligen Feinde zu ihrer Heimat“, wie Christian | |
| Weber in seiner Rede beschreibt. | |
| Bevor sie kamen, hatte die Bremer jüdsiche Gemeinde nur noch 150 | |
| Mitglieder. Inzwischen ist sie auf knapp 1.000 Mitglieder gewachsen und hat | |
| mit Netanel Teitelbaum seit 2014 nach langer Zeit auch wieder einen | |
| eigenen, festen Landesrabbiner. Die Gemeindevorsitzende Elvira Noa weist | |
| auf die besondere Bedeutung des Gedenksteins für die MigrantInnen aus der | |
| ehemaligen Sowjetunion hin: „Die russischen Juden brachten auch ihre | |
| Erinnerungen mit, es sind traurige Erinnerungen, die nie vergessen werden“, | |
| sagt Noa. „Jetzt haben die Erinnerungen einen Ort.“ | |
| Der ehemalige sefardische Oberrabbiner von Israel und Jerusalem Shlomo | |
| Moshe Amar ist der Ehrengast. Er schlägt in seiner Ansprache den Bogen von | |
| der Shoa bis zum allgegenwärtigen Antisemitismus: Die Lehren aus der Shoa | |
| seien nicht gelernt worden. „Dass der Antisemitismus jetzt wieder sein | |
| Haupt erhebt, hätten wir uns nicht vorstellen können.“ | |
| Er thematisiert auch die Kriege in Syrien, im Irak und im Jemen: „Da | |
| passiert ein Völkermord, und die Welt steht da und streitet sich“, sagt | |
| Amar. „Es findet sich niemand, der sich denkt: Dort gibt es Seelen, die es | |
| zu retten gilt. Dort fließen Ströme von Blut.“ Aber er gibt der Bremer | |
| Gemeinde und ihren Gästen eine Prophezeiung mit auf den Weg: „Wer Böses | |
| sät, der findet zuletzt keinen Halt mehr, in nichts.“ Das Böse schaffe sich | |
| schließlich selbst ab. | |
| Nach den Reden und Grußworten gehen die Gäste nach draußen, vorbei am | |
| ehemaligen Bremer Bürgermeister Henning Scherf, der am Ausgang der | |
| Trauerhalle steht, gleich neben dem Polizisten, und jovial mit Handschlag | |
| die herausströmenden Leute begrüßt wie ein evangelischer Pastor die | |
| Gottesdienstbesucher vor seiner Kirche. Er steht da und kann nicht anders. | |
| Auch diese Art der Aneignung gehört wohl zur deutsch-jüdischen Normalität. | |
| Die Gemeinde versammelt sich im kalten Nieselregen schließlich um den | |
| Stein, der auf dort begrabenen heiligen Büchern errichtet ist. Es ist das | |
| erste Mal, dass in Deutschland ein Mahnmal auf einem solchen Büchergrab | |
| errichtet wird. Im schwarz glänzenden, schmalen Stein spiegeln sich die | |
| BesucherInnen, die zu seiner Enthüllung gekommen sind und nun um ihn | |
| herumstehen, um später kleine weiße Kiesel auf seine gewellte Oberfläche zu | |
| legen. | |
| Seine Inschrift, einmal auf deutsch und einmal auf russisch: „ Zum ewigen | |
| Gedenken. Die heiligen Bücher in diesem Grab zeugen vom Tod jüdischer | |
| Menschen als Opfer des Nationalsozialismus. Die heiligen Bücher berichten | |
| von den Millionen Männern, Frauen und Kindern, ermordet in Ghettos, | |
| Konzentrationslagern und Massenerschießungen. Nie werden wir die Kämpfer | |
| gegen die Gewaltherrschaft im Zweiten Weltkrieg vergessen.“ | |
| Oberrabbiner Amar betet schließlich das Kaddisch, Fotografen fotografieren. | |
| Einer der russischen Juden, der zuvor noch für die Veteranen der | |
| sowjetischen Armee gesprochen hatte, ein alter Mann, steht da und weint. | |
| 14 Nov 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Karolina Meyer-Schilf | |
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