# taz.de -- Bremer Doku über Zeitzeugen des Holocaust: Die Worte der Überlebe… | |
> Der Bremer Dokumentarfilm „Wir sind Juden aus Breslau“ zeigt, wie | |
> Geschichte an die junge Generation weitergeben werden kann. Jetzt kommt | |
> er in die Kinos. | |
Bild: Anita Lasker-Wallfisch besucht mit Jugendlichen den Gefängnishof in Wroc… | |
BREMEN taz | Das sitzt eine Handvoll alter Menschen, alle um die 90, mit | |
einer Gruppe von Schülern und Schülerinnen zusammen und sie erzählen, wie | |
es ihnen ergangen ist, als sie in deren Alter waren. Das ist nicht nur ein | |
geschicktes pädagogisches Konzept, sondern auch ein wirkungsvoller | |
Filmanfang, denn so bekommt das Publikum schnell einen natürlichen und | |
persönlichen Zugang zu diesen Menschen und ihren Geschichten. Die Schüler | |
sind aus Bremen und Wrocław, das früher Breslau hieß, und sie haben sich in | |
der polnischen Stadt getroffen, um dort zusammen einen Workshop zu machen. | |
Ihre Gesprächspartner gehören zu den wenigen Juden, die vor 1933 in Breslau | |
aufwuchsen und heute noch leben. Vierzehn von ihnen haben die Filmemacher | |
Karin Kaper und Dirk Szuszies mit der Kamera porträtiert und gemeinsam | |
zeichnen sie mit ihren Erinnerungen ein sehr lebendiges und komplexes Bild | |
von der Verfolgung der Juden in ihrer Geburtsstadt – davon, wie sie | |
überlebt haben, wie sie Breslau verließen und in der Fremde weiterlebten. | |
Das Erstaunliche daran ist, wie klar und verständlich der Film geschnitten | |
ist. Dabei werden die Filmemacher nicht nur den 14 Protagonisten gerecht | |
und vermitteln Eindrücke vom Workshop, sondern geben nebenbei auch noch | |
einen Eindruck von der aktuellen politischen Stimmung in der polnischen | |
Kulturhauptstadt. | |
## Die vielleicht letzte Gelegenheit, Erinnerungen zu dokumentieren | |
Die Zeitzeugen sind zwischen 85 und 95 Jahre alt. Dass dies vielleicht die | |
letzte Gelegenheit war, ihre Erinnerungen zu dokumentieren, wird schon | |
dadurch klar, dass einer von ihnen inzwischen verstorben ist. Ihre | |
Geschichten sind sehr unterschiedlich. Die eine wurde 1938 nach Palästina | |
geschickt und blieb die einzige Überlebende aus ihrer Familie. Zwei | |
Schwestern wurde nach einem Fluchtversuch in Breslau der Prozess gemacht, | |
wodurch sie lange nicht ins KZ, sondern ins Gefängnis kamen – und wohl | |
darum überlebten. Schließlich trafen sie sich dann doch noch in Auschwitz | |
wieder, wo eine von ihnen im Lagerorchester Cello spielte. Einer wurde nach | |
der Befreiung beinahe noch von den Russen erschossen, weil diese ihn für | |
einen Hitlerjungen hielten. | |
Sie alle erzählen davon, wie bedrückend ihre Kindheit nach der | |
Machtübernahme wurde und wie verzweifelt ihre Eltern versuchten, der | |
drohenden Vernichtung zu entkommen. In einer Klangmontage lassen Kaper und | |
Szuszies ihre damaligen Fluchtfantasien miteinander verschmelzen, sodass | |
ihre Stimmen zu einem Chor werden, dessen Wortfetzen wie „Visum“, „London… | |
und „Shanghai“ zu einem Trauergesang der vergeblichen Hoffnungen werden. | |
„Wo war denn Gott in Auschwitz?“ fragt eine von ihnen und ein anderer | |
erzählt, dass er am Grab seines jüngeren Bruders in Polen nicht das | |
Kaddisch rezitieren konnte, denn dieses sei ein Dankgebet und er habe Gott | |
für nichts zu danken. „Ich glaube an überhaupt nichts“, sagt er und: „D… | |
kommt vom Holocaust.“ | |
Alle 14 reden sehr offen und reflektiert davon, wie sie mit ihren | |
Verletzungen und Verlusten umgegangen sind. Und als gute Dokumentarfilmer | |
bringen Kaper und Szuszies sie dazu, auch von dem Leben nach Breslau | |
erstaunliche Details zu berichten. So erfährt man, dass in Bergen-Belsen | |
noch viele der halbverhungerten Befreiten starben, weil sie die | |
„schrecklichen eisernen Rationen“ der Soldaten aßen und das Corned Beef | |
nicht verdauen konnten. Und in den frühen 50er-Jahren glaubten viele der | |
Juden in Israel den Flüchtlingen aus Deutschland nicht, dass es den | |
Holocaust überhaupt gegeben habe. | |
## Animationssequenz vom Synagogen-Brand | |
Kaper und Szuszies sind ein kleines, gut eingespieltes Team. Er steht | |
hinter der Kamera, sie macht den Ton und führt die Interviews. So sind sie | |
sehr beweglich und diese schlanke Art des Filmemachens gibt ihrem Film | |
einen natürlichen Fluss. Dennoch arbeiten sie mit vielen verschiedenen | |
Stilmitteln des Dokumentarfilms. Sie haben etwa bei wenigen wichtigen | |
Momenten der Erzählungen, von denen es keine Archivaufnahmen oder Fotos | |
gibt, kleine Animationssequenzen in den Film eingefügt. So gibt es bei | |
ihnen eine Zeichentrickaufnahme davon, wie die Synagoge von Breslau in der | |
Pogromnacht durch einen riesigen Brand zerstört wurde und auf einer | |
Postkartenansicht aus dem Breslau der frühen 30er-Jahre laufen | |
Spaziergänger durchs Bild. Bei den Archivaufnahmen von Naziaufmärschen oder | |
vom Leben im Kibuzz in Israel hört man auf der Tonspur das leise Rattern | |
eines Projektors. | |
Ein besonderes Fundstück ist eine Radioaufnahme, die die BBC mit einer der | |
Überlebenden kurz nach ihrer Befreiung aus Bergen-Belsen gemacht hatte. Von | |
ihrer sehr jung wirkenden Mädchenstimme wird direkt zu einem Gespräch | |
geblendet, das sie mit der Gruppe von Schülern im vergangenen Jahr geführt | |
hat. | |
Mit der Veränderung des politischen Klimas in Polen hat der Antisemitismus | |
dort neuen Auftrieb bekommen, und indem sie auch davon in ihrem Film | |
erzählen, geben die Filmemacher ihm noch mehr Tiefe und Dringlichkeit. In | |
einer Doppelmontage stellen sie Aufnahmen von einem „Marsch der | |
gegenseitigen Achtung“, mit dem Lokalpolitiker an die Pogromnacht erinnern, | |
anderen Bildern von einem nationalistischen Aufmarsch in der Stadt | |
gegenüber. Erst erzählen zwei der Schüler aus dem Workshop auf einer | |
Kundgebung, was sie von den Zeitzeugen gelernt haben. Darauf ist zu sehen, | |
wie eine im Stil einer antisemitischen Karikatur gestaltete Puppe | |
öffentlich auf den Straßen von Wrocłav verbrannt wird. Die Szene macht | |
deutlich, wie wichtig die Art von Erinnerungsarbeit immer noch ist, die | |
dieser Film leistet. | |
17 Nov 2016 | |
## AUTOREN | |
Wilfried Hippen | |
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