# taz.de -- Kolumne Gott und die Welt: Prophetische Rede | |
> US-Außenminister John Kerry hat nichts anderes verkündet als das | |
> absehbare Ende des jüdischen Staates. Ein solcher kann nur demokratisch | |
> sein. | |
Bild: John Kerry und Benjamin Netanyahu bei einem Treffen in Rom Mitte 2016 | |
Wer die [1][Rede des scheidenden US-Außenministers John Kerry] zum | |
Israel-Palästina-Konflikt als verspätete politische Intervention deutet und | |
sie deshalb kritisiert, der missversteht sie. | |
Diese Rede war ein Vermächtnis und gehört deshalb nicht dem Instrumentarium | |
außenpolitischen Handwerks, sondern der Gattung prophetischer Rede an. | |
Prophezeiungen aber sind etwas radikal anderes als mehr oder minder genaue | |
Prognosen. | |
So warnte Homers Kassandra die Trojaner vor dem hölzernen Pferd der | |
Griechen und sagte damit zugleich den Untergang Trojas voraus, so | |
verurteilten die Propheten der hebräischen Bibel das gottlose Treiben der | |
Könige Israels und Judas, um gelegentlich auch Trost zu spenden. | |
Prophezeiungen sind keine Prognosen, ihre Zeitangaben sind nicht exakt, auf | |
Prophezeiungen würde man keine Wetten abschließen – gleichwohl ergehen sie | |
meist dann, wenn ein Schicksal besiegelt ist. | |
Wohlmeinende, politisch aufgeschlossene Beobachter im heutigen Staat Israel | |
haben Kerrys Rede zu Recht als eine im besten Sinne zionistische Rede | |
gelesen, als eine Rede, die sich machtvoll gegen die Selbstaufhebung des | |
Zionismus in der Besatzungsherrschaft über das Westjordanland wendet. Liest | |
man seine Rede indes als Prophezeiung, so hat Kerry nichts anderes | |
verkündet als das absehbare Ende des jüdischen Staates, der, wenn | |
überhaupt, nur als demokratischer Staat existieren kann. | |
Ende dieses Monats gedenkt man des 205. Geburtstags – nicht eben eine | |
besonders eingängige Jahreszahl – von Moses Hess, eines Kampfgenossen, aber | |
auch Gegners und Rivalen von Karl Marx. 1812 geboren, als junger Mann | |
Kommunist, kehrte sich Hess angesichts von Antisemitismus und absehbarem | |
Misserfolg vom Kommunismus ab und veröffentlichte im Alter von fünfzig | |
Jahren, 1862, seine lange Zeit unbeachtete Schrift „Rom und Jerusalem, die | |
letzte Nationalitätsfrage“. | |
Vor dem Hintergrund der polnischen und ungarischen | |
Unabhängigkeitsbewegungen, des Wiederentstehens eines (republikanischen) | |
Italiens und eines modernen Griechenlands erkannte Hess die Wiedergeburt | |
jener Völker, die Europa geprägt haben: der Hellenen, der Römer und: der | |
Juden! Mehr noch: In fast unheimlicher Weise sah Hess einen verheerenden | |
Rassenkrieg heraufziehen, indes: | |
„Wie nach der letzten Katastrophe des organischen Lebens, als die | |
geschichtlichen Racen zur Welt kamen … so wird auch nach der letzten | |
Katastrophe des socialen Lebens, nachdem der Geist der geschichtlichen | |
Völker zur Reife gelangt ist, unser Volk wieder gleichzeitig mit den | |
anderen Geschichtsvölkern seinen Platz in der Weltgeschichte einnehmen.“ | |
Wie Hegel, den Hess durchaus zur Kenntnis genommen hatte, war er der | |
Überzeugung, dass es geschichtslose Völker gäbe; Völker, über die Europa, | |
namentlich Frankreich, in zivilisationsmissionarischer Absicht verfügen | |
müsse. | |
So widmete er sein Buch „Den hochherzigen Vorkämpfern aller nach nationaler | |
Wiedergeburt ringenden Geschichtsvölkern“ und plädierte daher für ein von | |
Frankreich unterstütztes jüdisches Staatswesen in den ans Mittelmeer | |
grenzenden Regionen des Osmanischen Reiches. | |
## Irreversible Besiedelung | |
Der Verwirklichung dieser Vision ging bekanntlich eine Katastrophe voran – | |
auch sie von Hess erahnt. Entstanden doch nach der letzten Katastrophe „des | |
socialen Lebens“, des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs, nicht | |
nur die UN-Menschenrechtskonvention, sondern auch der Staat Israel, der | |
seit bald 50 Jahren das Gebiet eines vermeintlich geschichtslosen Volkes, | |
der palästinensischen Araber, besetzt und irreversibel besiedelt hat. | |
Damit – und das wollte Kerrys prophetische Rede zum Ausdruck bringen – ist | |
das Ende des jüdischen Staates eingeläutet. Und zwar deshalb, weil ein | |
jüdischer Staat, soll er überhaupt seinen Namen verdienen, nur demokratisch | |
sein kann. Der sich jetzt irreversibel abzeichnende Apartheid- oder | |
„Palästinustan“-Staat entspricht dem jedoch nicht. | |
Die Weisen Israels, die Rabbanim, die Rabbinen, mussten sich im Lauf der | |
jüdischen Geschichte immer wieder mit politischen Messianisten | |
auseinandersetzen, die – durchaus wohlmeinend – das jüdische Volk ins | |
Unglück geführt haben. So schon in der späten Antike. Damals setzte sich | |
eine rabbinische Auslegung unter Bezug auf das „Hohelied Salomos“ mit den | |
„drei Schwüren“ auseinander. | |
Tatsächlich finden sich im babylonischen Talmud, in einem Traktat über | |
Heiratsurkunden (Ketubot 111 a), die warnenden Forderungen, dass das Volk | |
Israel nicht geschlossen aus der Diaspora ins Land Israel ziehen, sich | |
dieses Volk nicht gegen die Völker auflehnen sowie dass die Völker das | |
jüdische Volk nicht übermäßig knechten mögen. Man mag das für defätistis… | |
und opportunistisch halten – politische Klugheit ist ihm nicht | |
abzusprechen. | |
3 Jan 2017 | |
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## AUTOREN | |
Micha Brumlik | |
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