| # taz.de -- Geschichtsbuch von Ian Kershaw: Europas Desaster | |
| > „Höllensturz“ analysiert die Ursachen der Katastrophe in der ersten | |
| > Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das Buch zeigt Parallelen zu heutigen Krisen | |
| > auf. | |
| Bild: „Nationalsozialismus ist keine Alternative“, heißt es auf einem Stic… | |
| DiesesBuch sei all jenen ans Herz gelegt, die glauben, die Annexion der | |
| Krim durch Russland sei eine ganz natürliche Angelegenheit und nicht | |
| kritikwürdig. Dieses Buch sollten besonders diejenigen lesen, die der | |
| Meinung sind, dass die ethnischen Interessen der Deutschen wieder eine | |
| größere Rolle spielen sollten. Und dieses Buch ist denen zu empfehlen, die | |
| die Europäische Union für überflüssig halten. | |
| Was der renommierte britische Historiker Ian Kershaw mit seinem Buch | |
| „Höllensturz“ über Europa zwischen 1914 und 1949 vorgelegt hat, ist | |
| selbstverständlich nicht als Blaupause für unsere heutige Zeit zu | |
| verstehen. Dieses glänzend geschriebene Geschichtswerk zeichnet die Gründe | |
| nach, wieso ein ganzer Kontinent zur Halbzeit des Jahrhunderts in Trümmern | |
| lag. Kershaw erklärt, warum die europäischen Staaten trotz gemeinsamer | |
| politischer und wirtschaftlicher Interessen nicht in der Lage waren, diese | |
| Gemeinsamkeiten in Politik umzusetzen. Anhand dieser Gründe lassen sich | |
| durchaus Parallelen zu den Krisen finden, die heute Europa erschüttern. | |
| Da ist zum einen der extreme Nationalismus, der nicht nur in Deutschland | |
| grassierte, und der von einem ethnisch „reinen“ Staatsvolk ausging. Wie wir | |
| wissen, hat dieser Chauvinismus, zusammen mit dem Rasse-Antisemitismus im | |
| Nationalsozialismus die größte Katastrophe ausgelöst. Hitler konnte sich | |
| auf ein „völkisches“ Gedankengebäude stützen, das schon lange vor ihm | |
| vorhanden war. | |
| Begünstigt wurde das mehrfache Desaster Europas laut Kershaw durch | |
| Territorialforderungen, die nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Wunsch nach | |
| einem ethnisch homogenen Staatsgebilde begründet wurden. Und zum letzten | |
| bestand nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Völkerbund zwar eine | |
| supranationale Friedensorganisation, die bewaffnete Konflikte unmöglich | |
| machen sollte. Allein, dieses Konstrukt versagte angesichts | |
| revisionistischer Vorstellungen vollständig. Eine gemeinsame | |
| Friedensordnung in Europa aber gab es nicht. | |
| Kershaw, dessen Monografien über Hitler und den Nationalsozialismus zu | |
| Standardwerken geworden sind, verweist in seinem neuen Buch auf weitere | |
| Gründe für die Selbstzerstörung Europas. Er diagnostiziert einen akuten | |
| Klassenkonflikt, verbunden mit dem Entstehen der Sowjetunion, und er | |
| untersucht die lang anhaltende Krise des Kapitalismus, die viele Menschen | |
| immer mehr verarmen ließ. Vor allem aber fasziniert Kershaws europäische | |
| Herangehensweise, in der er die Gründe dafür analysiert, warum in manchen | |
| Staaten demokratische Grundprinzipien erhalten blieben und sich extremer | |
| Nationalismus nicht durchsetzen konnte – wie etwa in Skandinavien und | |
| Großbritannien –, während für andere Länder Demokratie nur eine Episode | |
| blieb und diese zugleich aggressiv Grenzverschiebung verlangten. | |
| Vor mehr als 70 Jahren hat der linksliberale Publizist Leopold | |
| Schwarzschild mit seinem Buch „Von Krieg zu Krieg“ schon einmal den Versuch | |
| gemacht, die europäische Katastrophe anhand des Fehlverhaltens der | |
| europäischen Mächte zu analysieren. Er fand in Deutschland den | |
| Hauptschuldigen. Das Buch erschien 1942 im Exil, es ist längst vergessen. | |
| Kershaw gebührt das Verdienst, diesen Blickwinkel auf eine europäische | |
| Dimension mit dem Abstand eines Historikers für das Publikum des 21. | |
| Jahrhunderts zu weiten. | |
| 22 Oct 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Klaus Hillenbrand | |
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