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# taz.de -- Antiziganismus in der Ukraine: „Geschossen, bis einer tot war“
> Bei einer Bluttat in einem Provinzstädtchen stirbt der Sprecher der
> örtlichen Roma. Der Hauptverdächtige ist der Ex-Bürgermeister.
Bild: Die Ehre des Vaters soll wiederhergestellt werden, verlangt Petr Kaspizki…
WILSCHANY/CHARKIW taz | „Haben Sie schon gehört?“, ruft die Alte und wartet
keine Antwort ab. „Alexeij Litwinow ist wieder frei! Unser alte
Bürgermeister, der wegen des toten Zigeuners in Untersuchungshaft war.“ Die
Rentnerin, die hinter einem Eimer mit Aprikosen, Knoblauchknollen und zwei
Kohlköpfen sitzt, kommt in Fahrt. „Nur hundert Meter von hier“, sie deutet
die Straße hinunter, „direkt vor dem Rathaus haben sie im Mai einen
Zigeuner ermordet, und Litwinow wurde drei Tage später festgenommen.“
Trotz der Hitze trägt die Alte ein rosa Kopftuch und einen grauen
Regenmantel. Wer schuld an dem Drama sei, wisse sie natürlich nicht. Aber
„die Zigeuner“ haben sich offensichtlich in eine Falle locken lassen. Der
ehemalige Bürgermeister habe sie zum Gespräch eingeladen, tatsächlich aber
habe man sie nur kommen lassen, um auf sie zu schießen.
Sie, beeilt sich die Alte, habe nichts gegen Roma. „Sehen Sie sich doch
hier mal die Bushaltestelle an. Überall Zettel, auf denen die Bewohner ihre
Wohnungen zum Verkauf anbieten. Und kein Einziger mit einer Wohnungssuche.“
Die Leute wollten weg. Warum die Roma vertreiben? Dann werde die Stadt ja
noch schneller aussterben. „Die zahlen ihre Steuern, leben wie wir in
normalen Wohnungen, sie arbeiten.“
Ein Anwohner gesellt sich hinzu. Der ehemalige Bürgermeister Alexeij
Litwinow und sein Sohn Andreij, der jetzt Bürgermeister ist, seien von der
Jagd gekommen an diesem tragischen 16. Mai, berichtet der Mann. Betrunken
seien sie gewesen und hätten Waffen gehabt. Und dann habe der alte Litwinow
die Roma aufgefordert, ins Zentrum zu kommen, man wolle mit ihnen über
Probleme reden. Und auf einmal habe er Männer herbeigewinkt, die sich am
Rande aufgehalten hätten. Die waren bewaffnet und schossen auf die Roma.
„So lange, bis einer tot war.“
## Ex-Bürgermeister nur noch unter Hausarrest
6.000 Seelen zählt das Städtchen Wilschany, 45 Busminuten von der
zweitgrößten Stadt der Ukraine, Charkiw, entfernt. Eigentlich ein
beschaulicher Fleck: Menschen vor Hauseingängen, einen Tee oder auch einen
Wodka in der Hand, frei laufende Hühner, streunende Hunde – und ein Mord,
der noch lange nicht aufgeklärt ist. Am Montag hatte ein Gericht den 52
Jahre alten Alexeij Litwinow, bis 2015 Bürgermeister von Wilschany und
seitdem Abgeordneter für die Partei „Wiedergeburt“ im Bezirksparlament in
Charkiw, aus der Untersuchungshaft entlassen und einen auf die Nachtstunden
beschränkten Hausarrest angeordnet. Zwei weitere Verdächtige bleiben ganz
auf freiem Fuß.
In der kleinen Markthalle nebenan werden nicht nur Kartoffeln, Knoblauch,
Tomaten und Speck gehandelt, sondern auch Ansichten und manche Sorgen.
Alles werde teurer, die Heizung, der Strom und vor allem die medizinische
Versorgung, schimpft eine Frau. Doch das Schlimmste seien die jungen
Männer. „Die denken doch nur an Alkohol, hängen den ganzen Tag herum. Und
wenn man sie fragt, was los ist, jammern sie, dass sie keinen Job haben.
Und wir Frauen müssen sehen, dass wir unsere Söhne und Männer
durchbringen.“ Irgendetwas habe sie falsch gemacht, meint sie. „Schauen Sie
sich die Litwinows an. Die haben gut ausgesorgt, die gehen auf die Jagd und
fahren teure Autos.“
Petr Kaspizkij hockt in einem alten, staubigen Lada. „Jetzt ist es wichtig,
auf juristischem Wege die Ehre meines Vaters wiederherzustellen“, sagt der
23-jährige Sohn des Erschossenen. Er deutet auf die Fahrzeugpapiere des
Vaters, ein Mann mit schmalem Gesicht. Der Roma-Sprecher Nikolaj Kaspizkij
ist gerade mal 50 Jahre alt geworden. Die Mutter leide seit seinem Tod an
Herzbeschwerden.
## Mit Gummi und Blei
Petr Kaspizkij erzählt, dass sich am Vorabend der Schießerei Litwinows
Sohn, der Ortsbürgermeister, und sein jüngerer Bruder Ruslan gestritten
hätten. Die Väter der beiden hätten sich danach für den nächsten Morgen
verabredet. Dort sei es dann zu der Gewalttat gekommen, bei der auch
Gummigeschosse eingesetzt worden seien. Er selbst sei von einem an der Wade
verletzt worden. Den Vater aber traf eine Kugel aus Blei.
Mit der Bevölkerung, beteuert auch Petr Kaspizkij, habe die knapp hundert
Personen große Roma-Gemeinde keine Probleme. Die Roma lebten in Wohnungen,
seien hier geboren, hätten hier geheiratet. Er hatte im Betrieb des Vaters
gearbeitet, eines Schrotthändlers. Wenn hier gegen die Roma gehetzt werde,
sagt Kaspizkij, komme es von der Familie Litwinow, die die gesamte Macht im
Städtchen innehabe. Der Vater Abgeordneter in Charkiw, der Sohn
Bürgermeister in einem Ort mit wenig Perspektive, aber hoher
Arbeitslosenquote. Und die beiden hätten irgendwann einen Sündenbock
gesucht. „Und das sind wir Roma.“
Die Litwinows hätten auch die Forderung erhoben, die Roma, die seit mehr
als 50 Jahren in der Stadt leben, zu vertreiben, sagt ein weiterer Rom. Der
Litwinow-Clan habe Geld und damit kaufe er Einwohner. Zwanzig Euro habe
jeder bekommen, der seine Unterschrift unter diese Forderung gesetzt habe,
sagt der Rom, der anonym bleiben will. Sie würden auch Leute bezahlen, die
vor Kameras schimpften und behaupteten, die Zigeuner hätten die
Litwinow-Familie überfallen. Und auf YouTube kann man tatsächlich Männern
zusehen, die in ihren Wohnstuben wortreich auf die Roma schimpfen.
## „Sollen die Roma Wilschany verlassen?“
Doch die Stimmung in Wilschany scheint, zumindest auf den ersten Blick,
nicht romafeindlich zu sein. Freundschaftlich sieht man Roma mit anderen
vor einem Geschäft stehen und reden. Stimmungen können allerdings gelenkt
werden. Bei einer nach der Schießerei angesetzten Gemeindeveranstaltung
macht sich der Volkszorn jedenfalls gehörig Luft. Die Versammlung hatte das
Thema „Sollen die Roma Wilschany verlassen?“, und vom Podium blickte
Bürgermeister Andrej Litwinow, Sohn des Hauptverdächtigen.
Zu einer gerichtlichen Anhörung seines Vaters waren 50 Unterstützer aus
Wilschany angereist. Bei dieser Gelegenheit erklärte ein Abgeordnete des
Gemeinderats nochmals, dass es an der Zeit sei, dass die Roma Wilschany
verlassen. Alexej Litwinow, ein vierschrötiger Kerl mit Stiernacken und
Stoppelschnitt, hatte zuvor noch einmal seine Unschuld beteuert. Rein
zufällig sei er bei der Schießerei zugegen gewesen.
Die Iwanowstraße 27 in Charkiw ist eine Prestigeadresse, doch wer das Büro
der „Menschenrechtsgruppe Charkiw“ aufsucht, ist schnell in einer anderen
Welt. Hier stehen verrostete Autos, hängt die Wäsche aus den Fenstern, und
im Erdgeschoss warten geduldig Menschen, bis eine der Anwältinnen Zeit hat.
Zu Natalija Ochotnikowa kommen viele Roma. Ja, sie habe von den Drohungen
gehört, die Roma von Wilschany zu vertreiben, und sie weiß von mindestens
acht Roma, die nach der Bluttat im Krankenhaus behandelt wurden.
## Wie eine Dissidentenwohnung
Jewgenij Sacharow, der Vorsitzende der Gruppe, hat zugehört. Jetzt aber
schaltet er sich ein. „Es gibt auch erfreuliche Entwicklungen.“ Nachdem
Zweifel an den Ermittlungen der lokalen Behörden aufgekommen seien, habe er
sich an diese mit der Bitte gewandt, Ermittler aus Kiew kommen zu lassen.
Wenig später seien diese gekommen, freut sich Sacharow, dessen Büro wie
eine sowjetische Dissidentenwohnung aussieht. Bücher verdecken die alten
Tapeten, an der Wand ein Plakat von Amnesty International.
Doch auch diese Ermittler werden nicht zu schnellen Ergebnissen kommen,
bleibt Anwältin Ochotnikowa skeptisch. Denn bei der Gewalttat seien vor dem
Rathaus von Wilschany etwa 40 Männer auf engstem Raum zusammengetroffen. Es
sei schwer, auf den vorhandenen Aufnahmen die Täter von den Opfern zu
unterscheiden. Sacharow sieht die Ausschreitungen von Wilschany als
Ausfluss des Antiziganismus in der ukrainischen Bevölkerung. So habe man
kurz vor dem Eurovision Song Contest im Mai in Kiew ein Romalager geräumt,
und in der Nähe von Odessa hatten Roma 2016 aus Angst um ihr Leben ihr Dorf
unter Polizeischutz verlassen müssen. Neu an Wilschany sei, dass man nun
auch gegen Roma vorgehe, die seit Langem integriert seien.
Nikolaj Burlutzkij hat keine Zeit für ein Treffen im Büro. Er will an einer
Bushaltestelle in Charkiw reden. Für den Juristen, Roma-Sprecher,
Menschenrechtsaktivisten und Prediger einer christlichen Gemeinde sind die
Ereignisse von Wilschany nur die Spitze des Eisbergs. „Je tiefer in der
Provinz die Roma leben, umso rechtloser sind sie“, sagt er. In Großstädten
wie Charkiw und Kiew würden NGOs und Medien darauf achten, dass es
zumindest öffentlich wird, wenn Roma verfolgt werden. Auf dem Land sei oft
niemand da.
## „Wir sind auch Ukrainer“
Falsch sei außerdem, dass politischen Amtsträger Übergriffe auf die Roma
nicht als ihr Problem betrachten. „Immer wieder wird von Konflikten
zwischen Roma und Ukrainern gesprochen“, erzählt Burlutzkij. „Wir sind auch
Ukrainer“, bekräftigt er das Offensichtliche. „Wenn sich der Staat aber
nicht der Roma annimmt, wird die Xenophobie zunehmen, und dann haben nicht
nur die Roma, sondern dann hat auch die Ukraine selbst ein Problem.“
Dabei hat die Ukraine eine Vision: Vor dem Rathaus von Wilschany hängen die
Flaggen der Ukraine und der EU einträchtig in der Sommerhitze – stumme
Zeugen, als Nikolaj Kaspizkij eine Kugel in den Rücken traf.
1 Sep 2017
## AUTOREN
Bernhard Clasen
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
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Roma
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