| # taz.de -- Gedenkprojekt an Berliner Grundschule: Tief in die Einsamkeit eindr… | |
| > Die jüdische Malerin Charlotte Salomon wurde von den Nazis ermordet. | |
| > Schüler*innen der Charlotte-Salomon-Grundschule erinnern nun sie. | |
| Bild: Besucher vor einem Selbstbildnis von Charlotte Salomon aus dem Jahr 1940 | |
| Unweit des Savignyplatzes in Charlottenburg steht ein breites weißes | |
| Eckhaus mit der Nummer 15. „In diesem Haus lebte Charlotte Salomon von | |
| ihrer Geburt am 16. April 1917 bis zur Flucht aus Deutschland im Januar | |
| 1939“, verkündet ein Bronzeschild an der linken Haushälfte. In den Gehweg | |
| davor sind sechs Stolpersteine aus Messing eingelassen worden. Sie erinnern | |
| an die Salomons und an die Drillers, zwei jüdische Familien, die in diesem | |
| Gebäude gewohnt hatten, bevor die Nazis sie ihrer Existenz und ihres | |
| Zuhauses beraubten. | |
| Die Tochter einer dieser Familien, die Berlinerin Charlotte Salomon, war | |
| eine jüdische Malerin und Schriftstellerin, die 1943 von den | |
| Nationalsozialisten im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau ermordet | |
| wurde. Am 16. April wäre sie 100 Jahre alt geworden. Zu diesem Anlass | |
| erinnern die Schüler*innen und Lehrer*innen der Kreuzberger | |
| Charlotte-Salomon-Grundschule mit Bildern und Projekten an das Leben und | |
| Werk der Künstlerin. Ihren Namen trägt die Schule seit Oktober 1991. Die | |
| Schulleitung versteht sie als Schule, „in der seither Integration und | |
| Inklusion gelebt werden“. | |
| An der Grundschule findet eine fächerübergreifende Auseinandersetzung mit | |
| der Malerin Charlotte Salomon statt. So fertigen die Schüler*innen im | |
| Unterricht kreative Interpretationen von Salomons Arbeiten an: „Wir | |
| beschäftigen uns mit einem Leben vor 100 Jahren in derselben Stadt, in der | |
| wir leben. Was ist anders? Was ist gleich geblieben? Wir ziehen Vergleiche, | |
| schauen uns an, welche Chancen Charlotte hatte, sich zu entwickeln. Wo | |
| haben wir heute mehr Möglichkeiten?“, erläutert Birgit Schlesinger, eine | |
| Lehrerin der Schule. | |
| Schlesinger leitet die Charlotte-Arbeitsgemeinschaft. In der AG widmen sich | |
| Schüler*innen der fünften und sechsten Klassen „ihrer“ Charlotte auch nach | |
| dem Unterricht. Sie wirken als Multiplikator*innen für die gesamte Schule | |
| und stellen Mitschüler*innen ihre Ergebnisse in Präsentationen vor. Es | |
| wurden sogar Fahrten für die Grundschüler*innen nach Südfrankreich und nach | |
| Amsterdam organisiert, wo Erwachsene und Kinder gemeinsam den Spuren der | |
| Malerin folgten. | |
| ## Eine Liebeserklärung | |
| Auch der französische Schriftsteller David Foenkinos begab sich auf | |
| Spurensuche nach Charlotte Salomon – für seinen 2016 auf Deutsch | |
| erschienenen Roman „Charlotte“, in dem die Schranken zwischen Fiktion und | |
| Faktischem verschwinden. Jahrelang versuchte Foenkinos, seiner | |
| Protagonistin nahezukommen. An den Originalschauplätzen in Berlin und | |
| Südfrankreich suchte der Autor nach Zeugnissen von Charlotte Salomons | |
| Existenz. Sein Buch ist eine Liebeserklärung an „seine“ Charlotte, die er | |
| als schöne und tragische Figur zeichnet. „Ich muss noch tiefer in die | |
| Einsamkeit eindringen“, lässt er seine Heldin denken, während er ihr Leben | |
| nachempfindet. | |
| In der Charlotte-Arbeitsgemeinschaft der Kreuzberger Grundschüler*innen | |
| werden sowohl die schönen als auch die tragischen Momente aus Charlottes | |
| Biografie thematisiert. An der Schule versucht man, sich viel Zeit zu | |
| nehmen, um schwierige Themen wie die NS-Zeit, Einsamkeit und Depression zu | |
| behandeln. Die Lehrer*innen bemühen sich, die Fragen der Schüler*innen | |
| ernst zu nehmen und gemeinsam Lösungen aufzuzeigen. So wird beispielsweise | |
| darüber gesprochen, welche Therapien und Medikamente es heutzutage für | |
| Menschen gibt, die an Depressionen leiden. | |
| Die Menschen in Charlotte Salomons Leben hatten diese Hilfsmöglichkeiten | |
| nicht. In ihrer Familie mütterlicherseits waren Depressionen verbreitet. | |
| Mehrere Betroffene suchten den Ausweg im Selbstmord. Darunter auch die | |
| Mutter, als Charlotte gerade einmal neun Jahre alt war. In Südfrankreich, | |
| wohin Charlotte Salomon während der NS-Zeit mit ihren Großeltern flüchtete, | |
| nahm sich dann auch die Großmutter das Leben. | |
| Nach deren Tod wurde Charlotte Salomon mit ihrem Großvater in ein | |
| Konzentrationslager verschleppt. Weil sich der Gesundheitszustand des | |
| Großvaters zunehmend verschlechterte, wurden die beiden jedoch wieder | |
| freigelassen. Um das Erlebte zu verarbeiten, zog sich die damals 24-Jährige | |
| in die Malerei zurück. | |
| ## Illustrierte Geschichte | |
| Nach 18 Monaten selbst gewählter Isolation war Charlotte Salomons Werk 1942 | |
| vollendet – sie hatte 1.325 Gouachemalereien angefertigt. Kommentiert mit | |
| Texten und Musiktiteln, wurde daraus ein dreiteiliger Bilderzyklus mit dem | |
| Titel „Leben? Oder Theater?“. Darin illustrierte sie die eigene | |
| Familiengeschichte, ließ Grenzen zwischen Fantasie und Wirklichkeit | |
| verschwimmen. Sie verknüpfte unterschiedliche Kunststile und widersetzte | |
| sich damit einfachen Kategorisierungen. Heute gehören Charlotte Salomons | |
| Arbeiten zum Bestand des Jüdischen Historischen Museums in Amsterdam. | |
| Im Exil heiratete die Malerin den österreichischen Geflüchteten Alexander | |
| Nagler. Allerdings war dem Paar nur eine kurze Episode des Glücks vergönnt. | |
| Im fünften Monat schwanger, wird Charlotte Salomon im Herbst 1943 | |
| denunziert und mit ihrem Mann nach Auschwitz deportiert. Wahrscheinlich | |
| wurde die Schwangere kurz nach der Ankunft ermordet. Zu diesem Zeitpunkt | |
| war sie 26 Jahre alt. | |
| „Vergesst sie nicht“, appelliert der Landesjugendring Berlin auf seiner | |
| bronzenen Gedenktafel am ehemaligen Wohnort der Familie Salomon in der | |
| Wielandstraße 15. | |
| ## Schule gegen das Vergessen | |
| Die Schauplätze von Charlotte Salomons Leben in Berlin sind auch Teil der | |
| Gegenwart. Wenige Gehminuten von ihrem damaligen Wohnhaus entfernt ist das | |
| Sophie-Charlotte-Gymnasium zu finden, das Fürstin-Bismarck-Lyzeum hieß, als | |
| Charlotte Salomon es besuchte. Um dem antisemitischen Hass zu entkommen, | |
| verließ sie die Schule mit 16 Jahren. Zwei Jahre später begann sie ein | |
| Kunststudium an den Vereinigten Staatsschulen für freie und angewandte | |
| Kunst, der heutigen Universität der Künste Berlin – dort wurde ihr | |
| künstlerisches Talent erkannt. Die öffentliche Anerkennung blieb ihr als | |
| Jüdin jedoch verwehrt. | |
| Das Bronzeschild und die Stolpersteine sind Zeichen gegen das Vergessen. | |
| Sie machen Charlotte Salomons Spuren im Stadtbild erkennbar. Die | |
| Sichtbarmachung ist eine Würdigung ihres Lebens und zugleich Beleg ihrer | |
| Existenz. | |
| „Durch Malen hast du uns dein ganzes Leben überliefert. Du hast mit hellen | |
| und dunklen Farben gemalt, mit fröhlichen und traurigen. Jetzt lebst du | |
| nicht mehr, aber mit deinen Bildern hast du dich eigentlich unsterblich | |
| gemacht.“ Diese Worte widmet ein Schüler Charlotte auf einer Postkarte. Die | |
| Schüler*innen der Charlotte-Salomon-Grundschule erweisen der jüdischen | |
| Künstlerin mit ihren Projekten eine Hommage. Sie schreiben an Charlotte, | |
| malen Bilder von ihr und nach ihrem Vorbild, gestalten eigene | |
| Interpretationen zentraler Themen aus dem Bilderzyklus „Leben? Oder | |
| Theater?“. So drücken sie zum Beispiel in Texten oder Zeichnungen aus, was | |
| Einsamkeit für sie bedeutet. | |
| Mindestens alle zwei bis drei Jahre findet an der Schule eine Projektwoche | |
| in Gedenken an Charlotte Salomon statt. Dann versammeln sich alle auf dem | |
| Schulhof und singen das Charlotte-Lied, das von Schüler*innen und | |
| Lehrer*innen gemeinsam geschrieben wurde. Darin heißt es: „Uns’re Welt | |
| braucht viel Freude und Glück, / Sprache, Bilder und Musik, / und die | |
| Freiheit, die Dinge zu tun, die wir lieben./ Zeit und Raum, um Gedanken zu | |
| teilen / und einander zuzuhör’n. / Woll’n Gemeinschaft, nie wieder | |
| Verfolgung, / alle soll’n dazugehör’n.“ | |
| ## „Hier ist ihr Zuhause“ | |
| Ausgrenzung und Diskriminierung seien in den Unterrichtsgesprächen | |
| wiederkehrende Inhalte, bestätigt die Lehrerin Birgit Schlesinger. Die | |
| Auseinandersetzung mit der grausamen Verfolgung von Jüdinnen und Juden im | |
| Dritten Reich ist inzwischen fester Bestandteil der Berliner Rahmenpläne | |
| für den Geschichtsunterricht. Aber es würden auch gegenwärtige Themen, die | |
| die Schüler*innen beschäftigen, zum Unterrichtsgegenstand gemacht. So zum | |
| Beispiel die Lebenssituation von geflüchteten Menschen in Deutschland. „Wir | |
| verstehen Verschiedensein als Bereicherung des Lernens und Lebens an | |
| unserer Schule. Kinder mit sehr vielen kulturellen Hintergründen und sehr | |
| verschiedenen Lernvoraussetzungen werden bei uns beschult“, fasst | |
| Schlesinger den Leitgedanken der Schule zusammen. | |
| Foenkinos schreibt in seinem Roman: „Hier ist ihr Zuhause. / Hier in | |
| Deutschland. / Man muss optimistisch bleiben. / Und hoffen, dass dieser | |
| Hass nur vorübergehend ist.“ | |
| Seine Worte scheinen unsere Gegenwart zu beschreiben, obwohl sie eigentlich | |
| der Vergangenheit gewidmet sind. Die Anfang April entfachte Debatte über | |
| antisemitische Gewalt an Berliner Schulen zeigt, dass Hass gegen | |
| Minderheiten noch immer präsent in unserer Gesellschaft ist. | |
| 18 Apr 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Saida Rößner | |
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