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# taz.de -- Die Streitfrage: Brauchen wir diesen Gedenktag?
> Erstmals gibt es einen nationalen Gedenktag zu Flucht und Vertreibung.
> Selbst manche Vertriebene halten das nicht für sinnvoll.
Bild: Tag der Sudetendeutschen: Sie treffen sich jedes Jahr an Pfingsten
Tote Flüchtlinge im Meer, am Strand, vor dem Bundeskanzleramt. Die
Nachrichten über die Geschichten der Menschen, die auf der Suche nach
Schutz, Frieden und einem besseren Leben in Europa sterben, hören nicht
auf. Mitten in Berlin haben erst in dieser Woche Polit-Aktivisten die
Beerdigung [1][einer ertrunkenen Syrerin auf einem Friedhof inszeniert]. Am
Sonntag wollen sie ein Massengrab vor dem Bundeskanzleramt ausheben.
In Deutschland wird nun erstmals ein nationaler „Gedenktag für die Opfer
von Flucht und Vertreibung“ begangen. Das Datum, der 20. Juni, ist kein
Zufall, sondern der Weltflüchtlingstag der Vereinten Nationen. Man wolle,
[2][findet das Bundesinnenministerium], „das Flüchtlingsgedenken um das
Schicksal der Vertriebenen erweitern“.
Die Vertriebenen, das sind die Deutschen, die vor 70 Jahren nach Kriegsende
aus den alten deutschen Gebieten in den Westen fliehen mussten. Am neuen
Gedenktag wird laut Bundesregierung [3][“insbesondere der deutschen
Vertriebenen gedacht“] – insbesondere der deutschen Vertriebenen?
## Ein Tag für die Mittäter?
Es gibt in Deutschland sechs nationale Gedenktage, der 20. Juni wird der
siebte. Einer von ihnen ist ein Volkstrauertag für alle Opfer von Krieg und
Gewalt. Seit 1996 gedenkt Deutschland gesondert am 27. Januar der Opfer des
Nationalsozialismus, also der ermordeten Juden, Zwangsarbeiter, der
verfolgten Homosexuellen, Sinti und Roma und anderer Menschen, die durch
das Nazi-Regime entrechtet, verfolgt, gequält oder ermordet wurden.
Stehen diese beiden Gruppen überhaupt im Verhältnis? Brauchen und verdienen
die deutschen Verfolgten ihren eigenen Tag?
Manche würden diese Frage klar verneinen. Sie würden argumentieren, dass
diese Verfolgten Mittäter des NS-Regimes waren. Dass sie keine unschuldigen
Opfer sind, sondern Befürworter der territorialen Machterweiterung, die
erst zu den wirklichen Opfern dieses Krieges führte. Noch heute werden
Besucher der Heimattage von Vertriebenenverbänden als
„geschichtsrevisionistisch“ und „Ewiggestrige“ beschimpft. Doch so
einseitig ist diese Frage nicht zu beantworten. Die deutschen Vertriebenen:
Wer waren, wer sind diese Menschen?
## Sie kamen auf unterschiedlichen Wegen
Rund 12 Millionen waren es bei Kriegsende. Sie lebten in den alten
deutschen Ostgebieten und verloren alle ihre Heimat. 12 Millionen, das ist
keine homogene Gruppe. Manche siedelten erst mit der Machtergreifung der
Nazis in die früheren deutschen Gebiete aus, andere waren seit hunderten
von Jahren in Ostpreußen, Schlesien und Pommern zu Hause. Sie kamen auf
unterschiedliche Art in das Nachkriegsdeutschland.
Manche wurden noch vor Kriegsende von den Nazis evakuiert, andere flohen
vor der Roten Armee, manche wurden gebeten zu gehen, andere wurden auf
Befehl des neuen Staats, in dem sie plötzlich lebten, ermordet. Krieg ist
immer Chaos, eine Schwarz-Weiß- Einteilung in Täter und Opfer unmöglich –
damals wie heute.
In den vergangenen Jahren ist eine Gruppe der Vertriebenen noch stärker in
den Fokus der Forschung gerückt, von denen sich selbst viele niemals als
solche bezeichnen würden. taz-Redakteurin Anja Maier beleuchtet [4][in der
taz.am wochenende vom 20./21. Juni] diesen Teil der deutschen Geschichte:
den der Menschen, die nach ihrer Flucht ihr neues Zuhause in der DDR fanden
und dort nicht als „Vertriebene“, sondern als „Umsiedler“ bezeichnet
wurden.
## „Relativ nüchtern ohne emotionale Komponente“
In der DDR gab es keine Vertriebenenorganisationen. Sie wurden für unnötig
befunden. Die Aufnahme von Menschen aus früheren deutschen Gebieten wurde
als freundliche deutsch-sowjetische Kooperation verstanden. „Der Begriff
„Umsiedlung“ wurde in der DDR gebraucht, „Flucht und Vertreibung“ in der
Bundesrepublik. Vertreibung sollte emotional das vermeintliche Unrecht zum
Ausdruck bringen, Umsiedlung hingegen den Vorgang relativ nüchtern ohne
emotionale Komponente beschreiben“, sagt der Historiker Stephan Scholz der
taz.am wochenende.
Nach der Wiedervereinigung wurde die westdeutsche Perspektive fast
vollständig als offizielle Wahrheit akzeptiert. Plötzlich hörte man in der
DDR von „Vertriebenen“, sie waren laut Westdeutschland doppelte Opfer – v…
den Sowjets verjagt und dann auch noch zu Kommunisten gemacht.
Flucht und Verfolgung spielt sich immer auf zwei Ebenen ab: auf der
gesellschaftlich-politischen und auf der persönlichen, emotionalen Ebene.
Geschichten der Flucht, sei es nach dem Zweiten Weltkrieg oder später von
der DDR in den Westen, gibt es in fast jeder deutschen Familie. Ob Täter
oder Opfer, jedes Leid ist individuell erfahren worden. Jeder traumatische
Verlust der Heimat, jede Entwurzelung hinterlässt eine offene Wunde, die
bei den heute noch Überlebenden immer noch schmerzt und bei den Nachkommen
nur langsam vernarbt.
## „Ich fühle mich nicht als Opfer“
Anja Maier erzählt die sehr persönliche Geschichte ihres Vaters und seiner
Brüder. Sie flohen 1945 aus dem Sudetenland in die DDR. Alle gingen
unterschiedlich mit der Fluchterfahrung um. Zwei Brüder – darunter der
Vater der Autorin, Wilfried Maier – landeten in der DDR, einer in der BRD.
Einer empfand sein Schicksal als gerechte Strafe. Der andere durfte es als
Vertriebenenvertreter zelebrieren. Der dritte nahm sich das Leben.
Wilfried Maier fühlt sich heute nicht mehr als Opfer. Seine Brüder, seine
Eltern – das waren seiner Meinung nach Opfer von Flucht und Vertreibung. An
dem Tag, als er mit seiner Familie in Loschowitz in den leergeschaufelten
Kohlewagen stieg, der sie für immer aus ihrer alten Heimat wegbringen
sollte, war er dreizehn Jahre alt. Er verlor alles. Trotzdem: „Wenn ich
mein ganzes Leben zusammennehme, fühle ich mich nicht als Opfer“, sagt er.
Die Geschichte von Wilfried Maier und seinen Brüdern ist ein Beispiel für
die Komplexität jeder Fluchtgeschichte und ihrer Aufarbeitung. Und in
Deutschland ist es besonders kompliziert. „Die Deutschen tun sich schwer,
ihrer eigenen Opfer zu gedenken“, sagt Vertriebenen-Experte Scholz. „Trotz
dieser Schwierigkeit ist es wichtig, sich weiterhin auf gesellschaftlicher
Ebene, aber auch in der eigenen Familie mit der Geschichte der deutschen
Vertriebenen zu beschäftigen.“
## Kriegt bald jeder seinen eigenen Gedenktag?
Ein Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung könnte dabei helfen.
Und auch die Aufmerksamkeit auf heutige Flüchtlinge und unsere
Verantwortung ihnen gegenüber zu lenken. Diesen Samstag wird der
Bundespräsident im Schlüterhof des Deutschen Museum eine Rede halten. Ein
Flüchtling aus Nordafrika und eine ehemals Sudetendeutsche werden sprechen
und am Ende wird das Lied der Deutschen erklingen. Am Anfang läuft die
Titelmelodie von „Schindlers Liste“. Ob das nun alles zusammenpasst oder
nicht.
Anja Maiers Vater wird am Samstag nicht dabei sein. Er hält den Tag für
überflüssig. Auch an vielen anderen Deutschen wird der Moment unbemerkt
vorüberziehen. Laut Vertriebenen-Experten Scholz ist der neue Gedenktag vor
allem auf das jahrelange Drängen des Bundes der Vertriebenen
zurückzuführen. Dem Verband sterben die Mitglieder weg, mit der
Verstaatlichung des Gedenktags wird die Mission des Verbands vom Staat über
sein Bestehen hinaus fortgeführt.
Hat diese erfolgreiche Lobbyarbeit zur Folge, dass bald auch andere Gruppen
ihren eigenen Gedenktag haben? Wieso gibt es eigentlich einen Gedenktag für
den militärischen Widerstand und nicht einen für Georg Elser oder für die
Geschwister Scholl? Oder sollte man den 20. Juni eben einfach als
Weltflüchtlingstag verstehen?
Halten Sie den neuen Gedenktag für sinnvoll?
Diskutieren Sie mit! Die Titelgeschichte „Wir sehen uns wieder“ lesen Sie
in der [5][taz.am wochenende vom 20./21. Juni 2015].
20 Jun 2015
## LINKS
[1] https://www.indiegogo.com/projects/die-toten-kommen#/story
[2] http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2015/05/2015-05-05-merkel-…
[3] http://www.protokoll-inland.de/PI/DE/NatGedenkFeiertage/20Juni/20Juni_node.…
[4] /!160656/
[5] /!160656/
## AUTOREN
Christina zur Nedden
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