# taz.de -- Kriegsgräber in Deutschland: Erst Spaß, dann Ernst | |
> Abscheu vor dem Krieg und Ehrfurcht vor Soldaten: Wie neun Schülerinnen | |
> und Schüler ihre Reden am Volkstrauertag im Bundestag proben. | |
Bild: Die Schülerinnen und Schüler „sollen auf diesen Reisen mit deutscher … | |
Gelsenkirchen taz | Draußen ein Pfiff. Eine Jugendmannschaft von Schalke 04 | |
trainiert. An der Gesamtschule Berger Feld in Gelsenkirchen gehört das | |
zusammen: Fußball und Lernen. Die Schule steht direkt neben der Arena des | |
Erstligisten. Vor ein paar Stunden spielten Schalke 04 und Dortmund dort im | |
Lokalderby gegeneinander. Für Fußballfans flammen alte Feindschaften auf: | |
Vorstöße, tödliche Pässe, überfallartige Angriffe – Kriegsmetaphern, wie | |
Kommentatoren sie verwenden. | |
In der Schule ist es dagegen leise. Dort wird auch der Nachwuchs von | |
Schalke unterrichtet. Mesut Özil und Manuel Neuer haben hier den Dreisatz | |
geübt. Das Gebäude, ein westdeutscher Zweckbau mit Beton und Neonröhren, | |
riecht nicht einmal nach Bohnerwachs. Die Aula ist zugleich die Kantine, | |
eine Bühne ist fest installiert, Flaggen hängen an den Wänden. | |
Neun Schüler und Schülerinnen lungern auf den Tischen und Stühlen, tippen | |
in ihre Smartphones. Sie kümmern sich heute darum, dass gerade nicht der | |
Fußball im Mittelpunkt steht – sondern Geschichte. Genauer: der | |
Volkstrauertag und die Kriegsgräberfürsorge. Themen, die Jugendliche nicht | |
auf Anhieb vom Stuhl reißen. Kein Toooor! | |
An diesem Sonntag ist Volkstrauertag und es werden einige aus der Gruppe | |
vor 1.500 geladenen Gästen des Bundestags im Plenarsaal in Berlin sprechen | |
– fünfzehn Minuten, live übertragen von der ARD. Mehr als eine halbe | |
Million Menschen werden ihnen zuschauen. Heute proben sie dafür. | |
Dennis Al Haddad geht zum Rednerpult, in der Hand ein Zettel, ganz | |
zerknittert. Er ist 18 Jahre alt, ein hochgewachsener Kerl, schlaksig, mit | |
freundlichem Gesicht. Auf der Bühne stockt ihm die Stimme. Er stottert. | |
Dann lacht er laut. Seine Mitschüler können sich auch nicht mehr halten und | |
lachen mit. Al Haddad fasst sich, redet weiter, die anderen werden leise. | |
„Meine Eltern kamen 1991 als politisch Verfolgte während des Irakkrieges | |
nach Deutschland“, liest er, „oder besser gesagt – sie sind hierher | |
geflüchtet, ähnlich wie die syrischen Flüchtlinge heute.“ In diesem Moment | |
wirkt die Bühne klein, zu klein für seine Worte. | |
## Recherche in Stadtarchiven | |
In ihren Reden wollen die Jugendlichen eine Verbindung ziehen zwischen | |
ihrer eigenen Geschichte und dem Volkstrauertag. Doch wie soll das für | |
Jugendliche gehen, die Krieg meist nur aus Geschichtsbüchern, | |
Zeitungsartikeln und Erzählungen kennen? | |
Jedes Jahr reisen die Schüler mit ihren Geschichtslehrern zu den | |
Gedenkfeiern auf den Soldatenfriedhöfen in Langemark in Belgien und in | |
Tarabya in der Türkei. Auf beiden Friedhöfen liegen deutsche Soldaten. In | |
Langemark haben deutsche Reservisten im Ersten Weltkrieg gekämpft, alte | |
Männer und junge, solche wie die Jugendlichen in der Aula. Seit 15 Jahren | |
veranstaltet die Schule diese Reisen, unterstützt werden sie finanziell und | |
organisatorisch vom Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge. | |
Viele der ausgewählten Schülerinnen und Schüler haben einen | |
Migrationshintergrund. „Sie sollen auf diesen Reisen mit deutscher | |
Geschichte konfrontiert werden“, sagt Georg Altenkamp. Bis vor zwei Monaten | |
war er Rektor der Gesamtschule. Vom Volksbund wurde er beauftragt, für die | |
Zentrale Gedenkstunde mit seinen Schülern Reden vorzubereiten. Altenkamp | |
ist 68 Jahre alt, Vollbart, Lederjacke, Jeans. Ein Alt-68er, als Student | |
ging er oft demonstrieren. „Ein Schüler wie Dennis muss verstehen, warum | |
Neonazis die Langestraße in Gelsenkirchen als Langemarkstraße | |
mystifizieren“, sagt Altenkamp. Er spricht rasch und präzise. | |
Vor den Reisen recherchierten die Schüler in Stadtarchiven die Geschichten | |
der gefallenen Soldaten. Sie lasen die Feldpost der jungen Männer, fühlten | |
ihre Angst. Die Schüler waren schockiert, die Feldpost ließ sie die | |
Schrecken der Kriege und die Verzweiflung der Soldaten empfinden. | |
Im September flogen sie nach Istanbul, um auf dem Kriegsfriedhof in Tarabya | |
eine Gedenkfeier für die Angehörigen der Gefallenen zu organisieren. Viele | |
der Schüler wollten zunächst einfach nur auf einer Klassenfahrt dabei sein. | |
Doch die sonst so lockere Stimmung einer Reise sei schnell umgeschwungen, | |
sie hätten sich auf das Gedenken eingelassen, erzählen die Schüler. | |
## Spaß, Betroffenheit, Bewunderung | |
Während sie von ihrer Reise berichten, hier in der kahlen Aula, wird | |
Abscheu vor dem Krieg spürbar. Und doch schwingt Ehrfurcht für die Soldaten | |
mit. „Sie haben ihr Leben für ihr Volk geopfert“, sagt Dennis Al Haddad. | |
Von Spaß zu Betroffenheit, von Betroffenheit zu Bewunderung in weniger als | |
sieben Tagen. | |
Noch immer steht Dennis Al Haddad auf der Bühne, unbeholfen wirkt er in | |
seinem bis zum Hals zugeknöpften Hemd. Er schielt zu Altenkamp hinüber. Der | |
nickt ihm zu, mit verschränkten Armen: „Noch mal Dennis, mach mal eine | |
Pause und betone stärker.“ | |
Die Probe ist vorbei. Im Gehen sagt eine der Schülerinnen: „Herr Altenkamp, | |
wenn wir im Bundestag waren und über uns geschrieben wurde, dann wollen wir | |
auch auf die Wandtafel mit den Zeitungsartikeln über Neuer und Özil.“ | |
Wieder der Fußball. So ganz, scheint es, hat sich der Fokus dann doch nicht | |
verschoben. | |
15 Nov 2015 | |
## AUTOREN | |
Baran Datli | |
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Flüchtlinge | |
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