# taz.de -- Eröffnung der Leipziger Buchmesse: Zu den traurigen Zuschauern spr… | |
> Er ist ein Kosmopolit, der vor einer Trümmerlandschaft steht – Mathias | |
> Enards Leipziger Preisrede behauptet den ästhetischen Widerstand. | |
Bild: Mathias Enard wurde zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse mit dem Leipzi… | |
LEIPZIG taz | „In Syrien unter dem Vater Assad waren die Orte zum Ausgehen | |
nicht sehr zahlreich, und man traf dort alle möglichen Leute an, vor allem | |
syrische Studenten, junge Leute, mit denen wir über das Leben sprachen und | |
dabei sorgfältig vermieden, uns über das Regime zu äußern,“ sagt die in | |
Tunis geborene Historikerin Leyla Dakhli. „Heute steckt in dieser geteilten | |
Lebenserfahrung eine unsagbare Melancholie.“ | |
In Damaskus lernte Dahkli in den 1990er Jahren auch den Schriftsteller | |
[1][Mathias Enard] kennen, mit ihm „einen Orient zwischen zwei Kriegen“. | |
Zusammen haben sie „Öffnungen miterlebt, die wir erwartet hatten, Wünsche | |
nach Freiheit, in denen wir nicht nur uns selbst wiedererkannten, sondern | |
auch unsere Freunde und unsere Gefährten dort unten.“ | |
In Leipzig steht sie nun zur Eröffnung der Buchmesse zwanzig Jahre später | |
im Gewandhaus auf der Bühne und hält eine berührende Laudatio auf ihren | |
damaligen Weggefährten Enard, den sie Jahre später, 2013 in Berlin erneut | |
traf. Dakhli spricht – in charmanten Deutsch mit leicht französischem | |
Einschlag – vom „Schmerz“ angesichts der „monströsen Tragödie“ Syri… | |
Aber auch wie sie „von Tag zu Tag immer öfter die schöne syrische Sprache | |
und ihre besondere Musik in der S-Bahn“ in Berlin hörte. | |
Die schöne syrische Sprache. Ebenso wie der mit dem Leipziger Buchpreis zur | |
Europäischen Verständigung 2017 ausgezeichnete polyglotte Franzose Enard | |
widersetzt sie sich jenen Vorstellungen, die den arabischen Raum vor allen | |
über Politik und Terrorismus betrachten. „Die Treue zu dem, was wir wissen | |
und worauf wir Wert legen“, beinhalte es, so Dakhli, gegenüber Islamisten | |
wie europäischen Populisten eine komplexe Kulturtradition zu behaupten. So | |
wie Enard dies mit seinem preisgekrönten Roman „Kompass“ tue. | |
## Von der Gefahr des Vielleicht | |
Enard selbst spricht – ebenfalls auf Deutsch – in seiner Leipziger | |
Dankesrede von einer „Erotik des Wissens“, der „Neugier als Motor der | |
Welt“, die er allen Kulturkämpfern und deren Wunsch nach „schimärischer | |
Reinheit“ entgegenhalte. „Ich fürchte den Leser eines einzigen Buches, soll | |
Thomas von Aquin gesagt haben, oder war es Augustinus von Hippo Regio (der | |
nur zur Erinnerung, Algerier war)?“, so Enard in einer der stärksten | |
Passagen seiner Rede. Und fährt fort: „Ich fürchte den Leser eines einzigen | |
Buches, denn er ist vielleicht unwissend, das Kind einer einzigen Lektüre. | |
Ich fürchte den Leser eines einzigen Buches, denn er kennt dieses | |
vielleicht so gut, dass es schwierig ist, ihm zu widersprechen.“ | |
Enards System des autonomen, kosmopolitischen Schriftstellers scheint in | |
sich schlüssig. Seine „Literatur lässt Raum für die Gemeinheit, die Gewalt, | |
die Perversität und die Machtbeziehungen,“ sagt Laudatorin Dahkli. In | |
Leipzig kritisierte er zudem zurecht die Europäer als „traurige Zuschauer“ | |
im Falle Syriens: „Können wir den Frieden nur auf einem so begrenzten | |
Geviert sichern, dass er weder die Ukraine, noch die Türkei, den Sudan oder | |
Mali einschließt?“ | |
Aber was meint der Schriftsteller damit wirklich, sofern er in Leipzig | |
diese rhetorischen Frage gleich hinterherschob: „Können wir nicht anders | |
für Sicherheit sorgen als durch Vorherrschaft und Imperialismus?“ Für den | |
Arabischen Frühling war der europäische „Imperialismus“ wohl mit Sicherhe… | |
das geringste Problem. | |
23 Mar 2017 | |
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## AUTOREN | |
Andreas Fanizadeh | |
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