| # taz.de -- Anne Webers aktueller Roman: Ein Spiel, das eine allein spielt | |
| > Was bin ich? Ein Junge mit Flöte, ein doppeltes Rätselraten für die Leser | |
| > – Anne Weber wagt mit ihrem Roman „Kirio“ ein Experiment. | |
| Bild: Die Autorin Anne Weber versucht, einen wirklich „guten Menschen“ lite… | |
| Was ist eigentlich an Serienmördern und Kinderquälern so interessant? Warum | |
| sind Wissenschaftler – von Schriftstellern und Filmemachern ganz zu | |
| schweigen – so gern dem Bösen auf der Spur und überlassen das Gute dem | |
| Vergessen oder allenfalls den Moraltheologen?“ Dies fragt sich irgendwann | |
| eine der Erzählerfiguren von Anne Webers Roman „Kirio“. | |
| Diese Erzählerfigur ist selbst Wissenschaftlerin, die sich vorstellt, „es | |
| müsse möglich sein, das Gute in Kirios Hirn mit Hilfe eines | |
| Magnetresonanztomographen einzufangen“. Mit einer sehr ähnlichen | |
| künstlerischen Intention muss wohl auch die Autorin Anne Weber an diesen | |
| Roman herangegangen sein: einen wirklich „guten Menschen“ literarisch zu | |
| fassen zu kriegen. Voilà: Kirio. | |
| Doch diese Person Kirio, so wie sie uns aus den Seiten des Romans | |
| entgegenkommt, ist eben so ganz und gar nicht wirklich zu fassen. Kirio | |
| ist ein männliches Wesen, ein Junge, der in der Bretagne von einer ledigen | |
| Mutter geboren und so halbwegs groß gezogen wird, bevor er sich als | |
| Teenager aufmacht in die Welt, um zunächst in den Armen einer anderen Frau | |
| die Freuden des Fleisches zu entdecken, diesen aber nach einer erfüllten | |
| Weile offenbar gänzlich zu entsagen. | |
| Fortan wird Kirio mal hier, mal dort in Paris gesichtet, wo er ein winziges | |
| Dachkämmerlein bewohnt, ansonsten aber durch die Gegend irrlichtert, | |
| vielleicht mit ein bisschen Flötespielen Geld verdient, vielleicht auch | |
| nicht, vor allem aber durch seine bloße Anwesenheit scheinbar absichtslos | |
| allerlei Gutes, ja, immer wieder kleine und große Alltagswunder bewirkt, | |
| die mit rechten Dingen nicht zu erklären sind. | |
| ## Kein normaler Mensch, das ist klar | |
| Wer oder was ist dieses Irrlicht mit Namen Kirio? Ein heiliger Narr? Ein | |
| Engel auf Erden? Ein Naturgeist? Auf jeden Fall kein normaler Mensch, so | |
| viel ist klar. Am Schluss wird seine Spur sich in Luft aufgelöst haben – | |
| oder in Legenden und Geschichten, denn sicher nicht ganz absichtslos bringt | |
| der Erzähler dann auch noch die Brüder Grimm ins Spiel. | |
| Die Autorin und Übersetzerin Anne Weber, die seit über dreißig Jahren in | |
| Frankreich lebt und dort so zu Hause ist, dass sie wesentlich häufiger | |
| Werke aus dem Deutschen ins Französische übersetzt als umgekehrt, hat in | |
| „Kirio“ ein extrem künstliches „Frankreich“ geschaffen, ein kulissenha… | |
| „Paris“, das mit dem heutigen Paris in etwa so viel zu tun hat wie der | |
| „Schnee“ in einer Schneekugel mit dem echten Winter. „Kirio“ ist eine A… | |
| literarisches Versuchslabor, nicht unbedingt ein Magnetresonanztomograph, | |
| aber doch eine Umgebung, in der unter künstlich geschaffenen Bedingungen | |
| ein Phänomen betrachtet wird. Oder ein Phänomen hergestellt wird? | |
| „Kirio“, der Roman, ist für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Er | |
| ist in jeder Hinsicht ein Rätsel und möchte eines sein. Nicht nur seine | |
| Hauptfigur entzieht sich jeder charakterlichen, daher menschlichen | |
| Einordnung; auch in Bezug auf die Erzählperspektive betreibt die Autorin | |
| ein ausdauerndes Versteck- und Vexierspiel. | |
| Zum einen übernehmen abwechselnd verschiedene Nebenfiguren, die den | |
| Lebensweg der Hauptfigur an unterschiedlichen Punkten kreuzen oder | |
| begleiten, Erzählerfunktion. Zum anderen scheinen all diese Erzähler | |
| gesteuert von einer Hauptinstanz, einem Metaerzähler, dessen Identität | |
| programmatisch unklar und der nicht nur allwissend ist, sondern der seine | |
| unklare Identität auch noch unermüdlich – geradezu penetrant – | |
| thematisiert. | |
| ## Der Erzähler im Fisch | |
| Dieser Erzähler scheint überall zu sein, in einer Forelle, einem Windhauch, | |
| scheint alles zu sehen und noch viel mehr zu können, denn er, oder sie oder | |
| es, sagt: „Es stimmt, ich habe mir mit allen meinen nicht geringen Kräften | |
| einen gewünscht, der so wäre wie Kirio. Nein, der Kirio wäre. Und nun ist | |
| er da.“ Ist die Autorin der Erzähler? Ist es Gott? Ist es der Weltgeist? | |
| Wir wissen es nicht – und werden es auch nicht wissen. Denn nicht Wissen | |
| ist hier ausschlaggebend. Wir können, mehr noch, wir sollen wahrscheinlich, | |
| glauben, was wir wollen. Aber was könnte das sein? In diesem doppelt | |
| verrätselten Romanaufbau, wo sowohl Hauptfigur als auch Erzählerfigur sich | |
| eindeutigen Zuschreibungen entziehen, spielt die Hauptfigur eher die | |
| wichtigste Nebenrolle, während der Erzähler, allmachtbewusst, die | |
| Hauptrolle einnimmt. Er ist es, der Kirio erschaffen hat, der ihn vorführt | |
| wie eine Erzähl-Marionette; der je nach Belieben andere Erzähler hinzu- und | |
| wieder ausschaltet: ein Vorgang, der nicht immer eindeutig und elegant | |
| vollzogen wird, sondern häufig eine irritierende Perspektivunklarheit | |
| mit sich führt. | |
| ## Das Gute als Erfindung | |
| Das „Was bin ich?“-Spiel, das der Erzähler mit den Lesern spielt, beginnt | |
| auf der ersten Seite und nimmt danach kein Ende mehr. Jedes Spiel aber, das | |
| einer allein spielt, während die anderen zugucken dürfen, ist vor allem für | |
| den Spielenden lustig. In der Leserrolle gefangen, verliert man bald das | |
| Interesse an dieser koketten Erzählerfigur, die ihre Allmacht | |
| ununterbrochen ausstellt und sich dabei in den Vordergrund schiebt. Das | |
| Interesse an seiner Erzählmarionette leidet dadurch mit – und auch durch | |
| den Umstand, dass die Retortenfigur, die Kirio nun einmal ist, so gar keine | |
| Entwicklung durchläuft. | |
| Schwer zu entscheiden, ob das eine Schwäche dieses Romans ist oder dieser | |
| Effekt vielleicht sogar in der Absicht der Autorin lag. Etwa um zu | |
| demonstrieren: Das Gute kann eben nur als Erfindung existieren? Eine so | |
| schwarze Einsicht widerspräche allerdings dem insgesamt überwiegend | |
| heiteren Duktus des Ganzen. | |
| Es scheint fast, als hätte „Kirio“ das literarische Labor zu früh | |
| verlassen. Als Erzählexperiment ist dieser Roman mutig und originell, hängt | |
| sich aber so sehr an seinen eigenen Verfahren auf, dass er wohl einfach in | |
| seiner formal-manieristischen Phase stecken geblieben ist. | |
| 22 Mar 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Katharina Granzin | |
| ## TAGS | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| USA | |
| Schwerpunkt Frankreich | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Eröffnung der Leipziger Buchmesse: Zu den traurigen Zuschauern sprechen | |
| Er ist ein Kosmopolit, der vor einer Trümmerlandschaft steht – Mathias | |
| Enards Leipziger Preisrede behauptet den ästhetischen Widerstand. | |
| Unabhängiger Buchhandel: Die Welt hinter den Buchstaben | |
| Kleine unabhängige Buchhandlungen dürfte es nach den Marktgesetzen nicht | |
| mehr geben. Doch es gibt Händler, die behaupten sich trotzdem. | |
| James Salter gestorben: Ein vergessener Held der US-Literatur | |
| James Salter ist lange nicht so bekannt wie etwa Philip Roth oder John | |
| Updike. Zu Unrecht, sagen Kritiker. Jetzt ist der Autor nur wenige Tage | |
| nach seinem 90. Geburtstag gestorben. | |
| Jérôme Ferrari über Roman „Das Prinzip“: „In Quantenphysik steckt Lite… | |
| Der französische Schriftsteller Jérôme Ferrari über seinen Heisenberg-Roman | |
| „Das Prinzip“, die Rolle von Fantasie in Forschungen und das Lernen aus | |
| Geschichte. |