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# taz.de -- Buchpreisträger Robert Menasse: „Die Briten kommen wieder“
> Mit einem Roman über die Europäische Union hat Robert Menasse den
> Deutschen Buchpreis gewonnen. Ein Gespräch über Brüssel, den Brexit,
> Fußball und Träumer.
Bild: Dort werden Märtyrerpapiere produziert: die europäische Kommission in B…
Einen Tag nach der Verleihung des Deutschen Buchpreises, am Suhrkamp-Stand
der Buchmesse. Überall wird noch ausgepackt und aufgebaut – wir sitzen in
einem abgetrennten, kleinen Raum, vier Quadratmeter groß vielleicht. Es
gibt Zigaretten, Wein und Bier.
taz.am wochenende: Herr Menasse, was war das für ein Gefühl, als Ihr
[1][Name bei der Buchpreisverleihung] aufgerufen wurde?
Robert Menasse: Ich war gerührt. Und es ist natürlich auch schön, für seine
Arbeit Anerkennung zu bekommen. Aber wissen Sie, was meine Agentin kurz
nach der Preisverleihung zu mir gesagt hat?
Erzählen Sie.
Sie sagte: Ab sofort wirst du sehr viel mehr Freunde haben und deine Feinde
werden sich klarer abzeichnen.
Haben sich die Feinde bereits abgezeichnet?
Noch nicht. Bislang habe ich nur Hunderte Mails mit Glückwünschen erhalten.
Ihr Vater, Hans Menasse, war Fußballprofi, ist österreichischer Meister
geworden, hat sogar für die Nationalmannschaft gespielt. Wollten Sie als
Kind auch Fußballprofi werden?
Ich habe sehr gern Fußball gespielt. Aber mit diesem Vater hatte ich keine
Chance, es gut zu tun. Wenn ich einen Fehlpass gemacht habe, hat man
gesagt: Was, das soll der Sohn von Hans Menasse sein? Es hat mich
gedemütigt, mit ihm Fußball zu spielen. Darüber hinaus hatte ich auch nicht
sein Talent. Ich habe also zwei Dinge beschlossen: Mein Vater war Fan der
Austria, und ich bin Rapid- Wien-Fan geworden. Und er war Rechtsaußen, also
habe ich beschlossen, das Fußballspielen aufzugeben und ein Linksaußen der
Philosophie zu werden.
Das kann man einfach so beschließen?
Meine Eltern haben sich sehr früh scheiden lassen. Ich bin in ein Internat
gekommen und dort aufgewachsen, das war wie eine geschlossene Anstalt. Eine
der wenigen Möglichkeiten, dort rauszukommen, war, jedenfalls geistig, sich
in der Schulbibliothek Bücher auszuleihen. Ich habe sehr viel gelesen und
hatte eine ungeheuerliche Neugier auf das Leben außerhalb der
Internatsmauern. Später kam noch Lebensglück hinzu: Ich hatte großartige
Lehrer, die mich, literarisch und philosophisch, inspiriert und gefördert
haben.
Jetzt haben Sie etwas erreicht, wovon Martin Schulz nur geträumt hatte.
Und das wäre?
Sie haben mit dem Thema Europa gewonnen. Warum konnte Martin Schulz mit
diesem Thema nicht im Wahlkampf punkten?
Martin Schulz war der erste überzeugte Europäer, der keinen Europawahlkampf
geführt hat. Van der Bellen hat auf Europa gesetzt und gegen alle Wetten
gewonnen. Macron hat auch einen dezidiert europäischen Wahlkampf geführt
und hat auch gewonnen. Ich habe Herrn Schulz mehrfach in Brüssel getroffen
und habe den allertiefsten Respekt vor dem großartigen Engagement, mit dem
er das Europäische Parlament aufgewertet hat. Bedauerlicherweise hat er
sein größtes Kapital nicht im Wahlkampf ausgespielt.
Weshalb?
Haben Sie die Spiegel-Geschichte [2][über seinen Wahlkampf gelesen]? Er
hatte ganz einfach die falschen Berater. Er hätte sich klar positionieren
müssen als der Repräsentant Deutschlands in Europa. Dort, wo Visionen
hätten sein können, haben ihn seine Berater in das Korsett des Pragmatismus
gezwängt.
Helmut Schmidt hat einmal gesagt: Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.
Ach, der Helmut Schmidt hätte zum Arzt gehen sollen. Weshalb schafft es
Europa nicht, wirklich gerechte und soziale Rahmenbedingungen für alle
Länder innerhalb der EU gemeinsam zu gestalten? Es ist doch eindeutig, dass
wir Krisen hatten und haben. Ich nenne nur ein paar wenige: Finanzkrise,
Haushaltskrise, Griechenland, Jugendarbeitslosigkeit, Nationalismus. Wer
waren denn die politischen Verantwortlichen der letzten 15 Jahre? Waren das
Träumer, Spinner, Utopisten? Nein, die politischen Pragmatiker haben doch
mit ihren nationalen Interessen die Krisen produziert. Und dann sagen diese
Pragmatiker, dass man diese Krisen pragmatisch lösen muss. Da macht der
Bock sich zum Gärtner.
Inwiefern?
Die Europäische Kommission hat zum Beispiel bereits Mitte der neunziger
Jahre damit begonnen, Vorschläge hinsichtlich einer europäischen Asyl- und
Flüchtlingspolitik zu unterbreiten. Die Nationalstaaten – darunter übrigens
auch Deutschland – haben das abgelehnt, weil sie sich nicht vorschreiben
lassen wollten, wie viele Asylbewerber sie aufzunehmen haben. Als das Thema
mit der sogenannten Flüchtlingskrise virulent wurde, gab es keine
gemeinsame europäische Strategie. Jedes Land kochte mal wieder sein eigenes
kleines Süppchen. Wissen Sie, in Brüssel gibt es etwas, das man
Märtyrerpapier nennt.
Was ist das?
Das sind Papiere, die in der Europäischen Kommission ausgearbeitet werden
und dann zum Europäischen Rat rübermüssen, der von den Nationen bestimmt
wird. Manchmal zerreißt der Rat die jahrelange Arbeit der Kommission
innerhalb von nur einer Stunde. Und dann sagen diese pragmatischen
Politiker ganz unverfroren zu Hause in ihren Nationen: Schauts, Europa
funktioniert ja nicht. Spannend wird ja sein, wie die Pragmatiker à la
Merkel auf den Macron reagieren werden, der wieder an den Traum von Europa
anknüpfen möchte.
Aber diesen Traum möchte er mit einer neoliberalen Politik verwirklichen.
Die kann man ja politisch bekämpfen. Aber den Traum von einer Sozialunion
muss man weiterentwickeln. Die, die den europäischen Einigungsprozess
begonnen haben, waren eindeutig Träumer. Der Traum war in der Realität fest
verwurzelt, weil er ein Traum auf konkreter historischer Erfahrung war. Und
die Europäische Union ist, bei aller Kritik, das Ergebnis dieser Träumer.
Macron mag ein Neoliberalist sein, er ist aber gleichzeitig europapolitisch
fortschrittlicher als alle Linken in Frankreich, die momentan beweisen,
dass „links“ zum Synonym von „dumm“ geworden ist. Die Sozialdemokraten
wollen die nationalen Arbeitsmärkte verteidigen und fallen somit in die
Nationalismusfalle. Ich werfe auch meinen linken Freunden in Frankreich
vor, dass sie vergessen haben, Internationalisten zu sein.
Wie kommt man auf die Idee, einen Roman über die Europäische Union zu
schreiben?
Ich habe mich gefragt, was ich jetzt Wesentliches und Wichtiges von meiner
Lebenszeit erzählen kann. Den Roman als literarische Gattung ernst zu
nehmen bedeutet ein Angebot der Selbstreflexion zu machen. Das prägendste
dieser Epoche war für mich der europäische Einigungsprozess. Das ist eine
schleichende Revolution, aber es ist immerhin eine Revolution. Ich dachte
mir: Wir haben uns das noch gar nicht in aller Konsequenz bewusst gemacht,
was das heißt, eine Hauptstadt zu haben, die die Rahmenbedingungen für
einen ganzen Kontinent beschließt. Ich wollte wissen, wie das funktioniert.
Wie sah Ihre Recherche aus?
Ich habe mir eine Wohnung in Brüssel gemietet und mir über einen Zeitraum
von vier Jahren die EU angeschaut. Ich habe versucht, so viele Beamte wie
nur möglich kennenzulernen. Ich wollte wissen, was das für Menschen sind.
Wie ein Arbeitstag von ihnen aussieht. Und auch, woran sie scheitern.
Woran scheitern sie?
Hauptsächlich an den Egoismen nationaler Interessen. Schauen Sie, es gab
die Normierung von Traktorensitzen. Wenn sich die Europäische Kommission
mit der Normierung von Traktorensitzen befasst, tut sie das nicht aus Jux
und Dollerei. Es war Deutschland, das ihnen dazu das Mandat und den Auftrag
erteilt hat. In Deutschland gibt es seit Langem eine Norm für
Traktorensitze. In Polen gibt es die nicht. Die deutschen
Traktorenhersteller haben das als ungerecht empfunden. In Wirklichkeit ging
es natürlich darum, dass die Polen die Traktorensitze billiger hergestellt
haben. Die Deutschen haben jedoch argumentiert, dass man zur Sicherheit der
europäischen Bauern die deutsche Normierung für Traktorensitze brauche. Die
deutschen Traktorenfabrikanten haben sich schließlich durchgesetzt, und der
europäische Bürger fragt sich, weshalb sich die Idioten in Brüssel wieder
mit solch einem Unsinn beschäftigen. Das ist die Wahrheit.
Sind Sie durch die Geschichte mit den Traktorensitzen und den Bauern auf
die Idee mit dem Schwein gekommen? Oder warum läuft die ganze Zeit ein
Schwein durch Ihren Roman?
Das Schwein ist eine Universalmetapher. Aber erklären möchte ich das jetzt
nicht. Sagen wir es mit Adorno: Jedes Kunstwerk hat einen Rätselrest. Aber
ich würde Ihnen gerne noch eine andere Anekdote über das Scheitern in
Brüssel erzählen.
Nur zu.
Gleich hinter dem Gebäude der Europäischen Kommission gab es ein Café, das
Café hieß Franklin. Das war ein Treffpunkt von europäischen Journalisten
und Beamten. Man hat dort nach der Arbeit diskutiert, sich ausgetauscht,
belgisches Bier getrunken und geraucht. Ich hätte diesen Roman übrigens
nicht schreiben können, wenn das absolute Rauchverbot in Belgien schon am
Anfang meiner Recherchen in Kraft getreten wäre.
Wieso nicht?
Ich bin ja ein leidenschaftlicher Raucher. Das Rauchverbot kam 2015. Ein
paar Monate später hat das Café zugesperrt. Wäre ich Anfang 2016 mit
derselben Absicht nach Brüssel gekommen, hätte es dieses Café mit seinem
enormen Informationsfluss gar nicht mehr gegeben. Ich weiß gar nicht mehr,
ob und wo die sich abends noch treffen. Aber zurück zur Geschichte.
Ja, zurück zur Geschichte.
Ich bin also sehr oft in das Café Franklin gegangen und habe mich dort mit
Beamten und Journalisten angefreundet. Einmal habe ich erlebt, wie ein
Journalist der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen sehr interessanten und
informativen Artikel über ein damals sehr wichtiges Thema in der
Europäischen Union geschrieben hat. Und ich war dabei, als die Antwort aus
der Redaktion auf seinem Computer aufleuchtete. In der Mail aus Frankfurt
stand sinngemäß: „Schreib nicht so kompliziert. Schreib nur, was das uns
Deutschen wieder kostet.“ Da haben Sie das Scheitern der Europäischen Union
in einer kurzen Mail.
Denken Sie, dass der Brexit der Anfang vom Ende der Europäischen Union ist?
Ganz im Gegenteil: Der Brexit ermöglicht die Chance zu einer Vertiefung der
Europäischen Union. Wäre Großbritannien geblieben, hätte es die EU
zerrissen. Ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Ich war gerade in Brüssel, als
das Referendum abgehalten wurde. Am Tag, als das Ergebnis bekannt gegeben
wurde, haben sich in einigen Cafés und Kneipen Kommissionsbeamte getroffen
und die Sektkorken knallen gelassen.
Die haben gefeiert?
Ja, weil die nämlich die Erfahrung gemacht haben, was es bedeutet, mit
Briten zusammenzuarbeiten und dauernd von denen blockiert zu werden. Der
David Cameron hat ja vor dem Referendum noch ein paar Ausnahmereglungen
ausgehandelt. Damit wollte er nach Hause gehen und seinen Leuten sagen:
Schauts, alles gut. Wir haben jetzt noch mehr Privilegien. Jetzt könnts für
„remain“ stimmen. Wenige Tage nach diesem Verhandlungsergebnis hat der
österreichische Außenminister gesagt, wenn die Briten bleiben, werden wir
für Österreich all dieselben Ausnahmereglungen und Privilegien aushandeln.
Am nächsten Tag kamen die Polen und am übernächsten Tag die Ungarn. Mit dem
Verbleib der Briten wären die Mitgliedstaaten wie Dominosteine umgefallen.
Es wäre ein System gewesen, das nur noch aus Ausnahmen für jedes
Mitgliedsland bestanden hätte. Aber jetzt hat der Brexit den anderen Angst
gemacht. Das Pfund ist abgestürzt, Arbeitsplätze sind abgewandert.
Plötzlich war sogar die FPÖ in Österreich nicht mehr für ein Referendum und
einen Austritt. Verstehen Sie mich nicht falsch: Natürlich gehören die
Briten zu Europa. Aber passen Sie auf, in 15 Jahren kommen die wieder,
wollen wieder eintreten und beanspruchen diesmal keine Ausnahmen. Das ist
meine Prognose.
Wo sind für Sie die Grenzen der EU?
Ich habe schon vor Jahren einen Essay geschrieben, in dem ich die Aufnahme
Israels in die Europäische Union gefordert habe. Israel ist die Konsequenz
und Antwort auf ein europäisches Problem und eine europäische Katastrophe.
Grundsätzlich erschiene es mir darüber hinaus wünschenswert, dass die
Europäische Union den ganzen Mittelmeerraum umfasst. Sobald Nordafrika,
aufgrund des gemeinsamen Kulturraumes des Mare Nostrum, Teil der
Europäischen Union würde, könnte unser Verhältnis zu Afrika auf ganz neuen
Grundpfeilern aufgebaut werden. Aber wir werden dies ganz gewiss nicht mehr
erleben.
Sind Sie in Bezug auf Europas Zukunft Pessimist oder Optimist?
Wenn wir es hinbekommen, hat Europa bewiesen, dass es Avantgarde ist. Wenn
wir es nicht hinkriegen, wenn es zerfällt, dann werden wir es erst recht
hinkriegen. Denn dann würden wir mal wieder auf unendliche
Trümmerlandschaften schauen, und die Verantwortlichen und Mitläufer würden
mal wieder sagen, dass dies nie mehr geschehen darf, und daraufhin die
Europäische Union wieder neu aufbauen.
Am Sonntag wird in Österreich gewählt. Wer gewinnt?
Ich bin kein Hellseher, aber wenn die Meinungsinstitute recht behalten,
werden wir eine sehr nationalistische Regierung bekommen. Das
gesellschaftliche Klima wird noch giftiger, revanchistischer und
kaltherziger werden, als es ohnehin schon ist. Dann müssen wir uns alle mal
wieder warm anziehen.
13 Oct 2017
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## AUTOREN
Alem Grabovac
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