Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Alem Grabovac im Stichwort-Interview: „Ich habe ein Talent für H…
> „Das achte Kind“ ist Alem Grabovacs erster Roman. Ein Austausch über
> verschiedene Väter, das ehemalige Jugoslawien, Ajvar und Maradona.
Bild: Vermisst im Lockdown die Kaffeehausfreundschaften: Alem Grabovac in Berlin
Seit vielen Jahren führt Alem Grabovac für die taz am Wochenende
Stichwort-Interviews mit SchriftstellerInnen, unter anderem mit [1][Wolf
Wondratscheck], [2][Péter Esterházy] und [3][Terézia Mora]. Jetzt, wo sein
sehr persönlicher erster Roman erschienen ist, ist er selber an der Reihe.
Gastarbeiter
Jetzt heißen wir „Menschen mit Migrationshintergrund“.
Schwaben
Heimat. Es gibt ein Lied von einer schwäbischen Rockband. Das geht so:
„Oinr isch emmer dr Arsch, ond er woiß nid mol warom. Oiner bleibt emmer
übrig ond koiner schert sich drom.“
Frankfurt am Main
Zweite Heimat. Wir haben damals in der Hanauer Landstraße gewohnt.
Erdgeschoss. Hinterhof. Das Leben dort war hart und schmutzig.
Prenzlauer Berg
Dritte Heimat. Ich sitze jede Nacht mit einer Bierflasche in der
Kastanienallee vor einem geschlossenen Friseurladen. Links neben dem
Eingang hängt ein Schild mit der Aufschrift „Notaufnahme: Termine nach
Vereinbarung“.
Heimat
Vierte Heimat: Das Bergdorf meiner Großeltern im kroatischen Hinterland.
Ich scheine ein Talent für Heimat zu haben.
Erste im Leben gerauchte Zigarette
Im Raucherabteil mit Martina zwischen Horb am Neckar und Böblingen. Sie
rauchte bereits, ich war 16 und verknallt in sie.
Alkohol
Eiserne Regel: Immer erst ab 20 Uhr. Ich bin Steinbock und wir Steinböcke
lieben eiserne Regeln.
Gefängnis
Mein leiblicher Vater Emir war ein Dieb und Kleinkrimineller. Er saß drei
Jahre in Goli Otok, im wahrscheinlich brutalsten Gefängnis des ehemaligen
Jugoslawiens.
Tito
In seiner schicken weißen Uniform: Das Porträt von ihm hing in meiner
Kindheit und Jugend überall, in jedem Geschäft und jedem Restaurant. Und
dann hing es plötzlich nirgendwo mehr.
Zugfahren
Im Sommer im Schlafwagenabteil von Frankfurt nach Split. Der Fahrtwind, das
Rattern der Räder, die Umrisse der Alpen im Mondschein und dann die blau
schimmernde Adria.
Jesenice
An der Grenze zum ehemaligen Jugoslawien legten wir immer einen
50-DM-Schein in unseren Pass, damit die Koffer, die mit Schokolade, Parfum,
Kaffee und weiß der Teufel was noch gefüllt waren, nicht von den
sozialistischen Grenzbeamten kontrolliert wurden.
Realität
Ein sehr fragiles Konstrukt, das immer auch Fiktion ist.
Fiktion
Die Essenz von Realität.
Glück
Der mit Abstand glücklichste Moment meines Lebens war, als ich zum ersten
Mal meinen Sohn in den Armen hielt.
Franz Kafka
Mit ihm begann meine Liebe zur Literatur.
Peter Handke
Als politischer Mensch, als ständiger Begleiter der Konflikte im ehemaligen
Jugoslawien, war und ist Handke ein Arschloch. Es gab eine Zeit, in der ich
seine Bücher geliebt habe. Man sollte aufpassen, in wen man sich so
verliebt.
Frauen
Waren in meiner Kindheit zumeist die Heldinnen.
Männer
Sollten weniger rumjammern und mehr Margarete Stokowski lesen.
Gewalt gegen Kinder
Ich wurde als Kind vom Freund meiner Mutter mit dem Gürtel verprügelt.
Niemals würde ich die Hand gegen meinen Sohn erheben.
Biene Maja
Habe ich früher immer auf unserem Betamax-Recorder angeschaut. Ganz
besonders habe ich den begriffsstutzigen Willi und das Anfangslied geliebt.
Habe die Kassette immer zurück gespult und dann mit Karel Gott gesungen:
„In einem unbekannten Land, vor gar nicht allzu langer Zeit …“
Dalli Dalli
Als Hans Rosenthal in die Luft sprang und sein „Sie sind der Meinung, das
war spitze“ ins Publikum rief, sagte mein deutscher Pflegevater: „Für einen
Juden eigentlich ganz witzig.“
Fußball
Ich muss mit einem Ball am Fuß zur Welt gekommen sein. Ich liebe Fußball
und hätte beinahe einmal für die Stuttgarter Kickers gespielt.
Lieblingspanzer
Mein deutscher Pflegevater hat in einer Panzerdivision im Russlandfeldzug
gekämpft. Als Kind war ich vernarrt in Panzer und habe sie sogar in die
Poesiealben der Mädchen gemalt. Inzwischen ist meine Liebe zu Panzern
erloschen.
Mittelschicht
Gab es früher einmal. Jetzt sind wir individualisiert alle gleich.
Familie
Ich bin in einer deutschen Familie, die sieben eigene Kinder hatte, als ihr
achtes Kind aufgewachsen.
Helmut Kohl
Für mich wird er niemals der Kanzler der Einheit sein. Er verkörperte ein
konservatives Land, das seine Migrationsgeschichte weder anerkannt noch
akzeptiert hat.
Deutschland
In kulinarischer Hinsicht inzwischen vollkommen globalisiert. Niemand wird
es Ihnen verübeln, falls Sie Sauerkraut, Kutteln, Eisbein, Harzer Käse,
Rollmöpse, Blutwurst oder Saumagen nicht zu Ihren Leibspeisen zählen.
Abendbrot
Ich bin der Koch in der Familie.
Ajvar
Schmeckt tausendmal besser als Ketchup.
London, Brick Lane
Eine Straße im East End, in der ich in einer Studenten-WG mit einer
Japanerin, einem Inder und einer Finnin zusammengelebt habe. Wenn wir von
einer durchtanzten Nacht nach Hause kamen, haben wir uns beim jüdischen
Bäcker um die Ecke einen Bagel mit Cream Cheese geholt.
Belgrad
Dort liegt das Grab meines leiblichen Vaters.
Väter
Ich hatte drei: The Good, the Bad and the Ugly. Fragt sich nur, wer der
Gute gewesen sein soll.
Nazis
Mein deutscher Pflegevater war ein Wehrmachtssoldat, der die Juden gehasst
und den Holocaust verleugnet hat. Für ihn war, wie für so viele andere
Deutsche, der 8. Mai 1945 ganz bestimmt kein Tag der Befreiung. Das
schmerzt mich bis heute.
AfD
Vogelschisspartei.
Frauenfußball
Ist mitunter schöner anzusehen als der Quark, den die Männer auf dem Rasen
fabrizieren.
Adria
Wird immer das Meer bleiben, in dem ich das Schwimmen gelernt habe.
Mütter
Ich hatte zwei, Marianne und Smilja, die nicht unterschiedlicher hätten
sein können.
Identitätspolitik
Ich habe den Eindruck, dass die Linken das Wort „Nation“ lediglich durch
das Wort „Identität“ ersetzt haben. Was als Befreiungsbewegung begann, hat
sich mitunter in eine Identitätstyrannei verwandelt.
Instagram
Vor ein paar Wochen wollte ich mich zum ersten Mal bei Twitter anmelden.
Habe das auch getan. Dann war ich drin und habe gemerkt, dass ich aus
Versehen einen Instagram-Account angelegt hatte. Na ja, jetzt bin ich eben
bei [4][Twitter] und [5][Instagram].
Kaffeehausfreundschaften
Vermisse ich gerade sehr.
Lockdown
Ich wünschte, dass ich ihn wie eine Fee im Märchen einfach wegzaubern
könnte.
Masken
Fördern definitiv den Flirt mit den Augen.
Jim Knopf
Das N-Wort ist Teil einer verstaubten Geschichte, das in Kinderbüchern
nichts zu suchen hat.
Angela Merkel
Ich werde sie vermissen.
Diego Maradona
Maradona war der Freifantasierer, war der Magier, war derjenige, der
mühelos das Zauberwort traf. Maradona war der Ball, und der Ball war
Maradona.
Turnschuhe
Müssen immer schwarz sein.
Sex
Macht mir immernoch riesengroßen Spaß.
Arbeitszeit
9–12.30 Uhr. Mittagspause. 14–17 Uhr. Selbstauferlegt. Die Poesie der
Wiederholung.
Apokalypse
Lebbe geht weider, wie der große Fußballphilosoph Dragoslav „Stepi“
Stepanović einmal gesagt hat.
Schönster Satz (in der Literatur)
„Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen“, der erste Satz aus Marcel
Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“.
Die Möglichkeit einer zweiten Chance
Inzwischen mag ich den Mann, der mich früher als Kind verprügelt hat, in
gewisser Weise ganz gerne. Es gibt fast immer eine zweite Chance.
1 Feb 2021
## LINKS
[1] /Wolf-Wondratschek-ueber-das-Schreiben/!5609117
[2] /Schriftsteller-Peter-Esterhazy-gestorben/!5324246
[3] /Schriftstellerin-Terezia-Mora-ueber-Fiktion/!5536490
[4] https://twitter.com/AlemGrabovac
[5] https://www.instagram.com/alemgrabovac/
## AUTOREN
Martin Reichert
## TAGS
Ex-Jugoslawien
BRD
Heimat
Väter
Schwerpunkt Landtagswahl in Rheinland-Pfalz
Schwerpunkt Rassismus
Lesestück Interview
Schwerpunkt Brexit
Martin Suter
## ARTIKEL ZUM THEMA
Migration aus Sarajevo in die Pfalz: Liebesbrief an Landau
Aus dem multikulturellen Sarajevo kommend, war Landau ein Kaff. Aber die
Jugendlichen dort teilten Eigenheit und Abenteuerlust. Ich verliebte mich.
Gedichtband von Semra Ertan: „Später werden sie es schätzen“
Fast 40 Jahre nach ihrem Suizid präsentiert ein Band die Gedichte von Semra
Ertan. Viele Themen sind aktuell: Rassismus, Kapitalismus und Widerstand.
Wolf Wondratschek über das Schreiben: „Ich bin nur der, der tippt“
Poet, Box-Fan und ein Münchner, den es nach Wien zog: Wolf Wondratschek.
Hier antwortet er auf Stichworte zu Männern und Frauen, Luxus und Erfolg.
Buchpreisträger Robert Menasse: „Die Briten kommen wieder“
Mit einem Roman über die Europäische Union hat Robert Menasse den Deutschen
Buchpreis gewonnen. Ein Gespräch über Brüssel, den Brexit, Fußball und
Träumer.
Martin Suter im Stichwort-Interview: „Geld ist da, um es auszugeben“
Früher Werber, heute sehr erfolgreicher Schriftsteller im deutschsprachigen
Raum: Martin Suter. Hier antwortet der Schweizer in maximal drei Sätzen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.