| # taz.de -- Migration aus Sarajevo in die Pfalz: Liebesbrief an Landau | |
| > Aus dem multikulturellen Sarajevo kommend, war Landau ein Kaff. Aber die | |
| > Jugendlichen dort teilten Eigenheit und Abenteuerlust. Ich verliebte | |
| > mich. | |
| Bild: Landau ist klein und diskret, aber weder langweilig noch bescheiden – h… | |
| Deutsche haben ein falsches Bild von Flüchtlingen: Sie glauben, dass wer | |
| vor Krieg nach Deutschland flieht, hier bei der Ankunft vor lauter | |
| Zivilisation gar nicht mehr aus ehrfürchtigem Staunen kommt. Aber stellt | |
| euch vor, ihr müsstet aus Sarajevo nach Landau fliehen? Nach Landau in der | |
| Pfalz? | |
| Ohne es in Worte fassen zu können, wusste ich schon als Kind, dass Sarajevo | |
| ein besonderer Ort ist – die Hauptstadt [1][des einzigen Grenzlands | |
| zwischen Orient und Okzident, multikulturell], von hypnotischer Schönheit | |
| und sich der eigenen Bedeutsamkeit sehr bewusst. Dort aufzuwachsen machte | |
| zum Snob; nach unserer Ankunft in Landau plagte ich meine Eltern mit | |
| Vorwürfen: Wieso sie uns in dieses langweilige Kaff hätten bringen müssen, | |
| wieso nicht nach New York? | |
| Während Sarajevo ein Ort war, an dem sogar Weltkriege anfingen, war Landau | |
| vor allem dafür bekannt, dass sich Harald Schmidt irgendwann in den 90ern | |
| darüber lustig machte: Die dicken Kinder von Landau, hihi. Klein und | |
| diskret, so war Landau. Aber es war weder bescheiden noch langweilig, und | |
| am Ende verliebte ich mich. | |
| Der berühmteste Sophismus der Literaturgeschichte lautet, dass all die | |
| glücklichen Familien einander ähneln, die unglücklichen aber auf ihre | |
| jeweils eigene Art unglücklich sind. Tolstoi kannte nicht die ganzen | |
| bosnischen Familien, die in den 90ern in Deutschland [2][auf ihre | |
| Abschiebungen warteten]: Jede verblutete langsam an derselben Wunde – an | |
| einem Herzdurchschuss. | |
| ## Ich lungerte in der Pfalz herum | |
| Sie alle trauerten um ermordete Familienmitglieder und Freunde, um das | |
| amputierte Leben. Als Kind solch einer Familie war man einerseits vom Krieg | |
| traumatisiert, andererseits jedoch damit weitgehend auf sich alleine | |
| gestellt. Trauer, Arbeitslosigkeit und das Grauen der Behördengänge | |
| forderten den Eltern alles ab, also lungerten die Kinder rum. Ich tat es in | |
| der Pfalz. | |
| Die Pfalz (und insbesondere Landau) war nicht jene brave Provinz, die | |
| Großstädter abfällig imaginieren; die Pfalz war nicht das Brandenburg eines | |
| ZDF-Films. Durch die Nähe zur französischen Grenze war Landau ein | |
| berüchtigter Umschlagplatz für Drogen, meine Gleichaltrigen waren am | |
| Wochenende mit vor Amphetaminen geblähten Nasen unterwegs, insbesondere, | |
| wenn es auf Auswärtsspiele [3][des 1. FCK] ging. Ihre robuste Abenteuerlust | |
| ähnelte jener von Sarajevoer Heranwachsenden, die mit derselben | |
| barbarischen Vorfreude den Derbys gegen die verhassten Belgrader Vereine | |
| entgegenfieberten. | |
| ## Sie waren ebenso identitätsbewusst wie wir | |
| Aber auch in anderer Hinsicht waren die Landauer Jugendlichen uns Bosniern | |
| sehr ähnlich: Sie waren ebenso identitätsbewusst wie wir, und genau wie wir | |
| sprachen sie einen Dialekt, für den sie außerhalb ihrer Heimat verachtet | |
| wurden – manchmal auch mit provokanter Lust, etwa wenn irgendwelche steifen | |
| Badenser im Zugabteil (oder kroatische Hotelangestellte an der Adria) die | |
| Nase rümpfen. Für mich gibt es bis heute kein schöneres Deutsch als den mit | |
| Romanismen besprenkelten Singsang meiner Pfälzer Freunde. | |
| Ich habe oft zurückgeblickt und mich gewundert, was verhindert hat, dass | |
| mein Herumlungern wie bei vielen anderen in Drogen und Autoknackerei | |
| mündete. Ich kam wohl an den richtigen Ort. An einen, zu dem ich gut | |
| passte. Immer wieder fragen mich Menschen, wieso ich als Schriftsteller | |
| nicht in Berlin lebe (denn offenbar macht man das so). Doch was soll ich in | |
| Berlin, wenn all meine Freunde hier sind, wenn ich einen Ort habe, an dem | |
| ich mich aufrichtig beheimatet fühle, an dem ich nie das Gefühl habe, | |
| ausgesondert zu sein, und an dem ich mich nur schämen muss, wenn ich etwas | |
| verbockt habe, niemals aber dafür, wer ich bin? Eben. | |
| 6 Mar 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Tijan Sila | |
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