| # taz.de -- Herkunftssprachlicher Unterricht: Nicht mehr nur Deutschstunde | |
| > Je besser Kinder ihre Muttersprache sprechen, desto schneller lernen sie | |
| > die ihres Umfelds. Einige Bundesländer haben das verstanden. | |
| Bild: Übung im Ja-Schreiben | |
| Berlin taz | Mehr als 25 Jahre ist es her, dass Amra Kötschau-Krilic aus | |
| dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland gekommen ist. Heute lebt sie im | |
| Berliner Stadtteil Pankow, ist mit einem Deutschen verheiratet, ihre Kinder | |
| sind inzwischen acht und elf Jahre alt. Aus Sorge, dass die beiden den | |
| Bezug zu ihrem Heimatland Bosnien irgendwann verlieren könnten, machte sich | |
| Amra Kötschau-Krilic vor einigen Jahren auf die Suche nach Angeboten für | |
| herkunftssprachlichen Unterricht (HSU), wo die Kinder ihre Muttersprache | |
| lernen. | |
| Bei einem bosnischen Kulturinstitut in Kreuzberg wird die Berlinerin, die | |
| bei der Orchesterdirektion der Berliner Staatsopfer arbeitet, fündig. Was | |
| für ein Kraftaufwand mit dieser Entscheidung für sie und ihren Mann | |
| verbunden ist, kann sie zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht absehen. | |
| „Wir melden uns, wenn es Probleme gibt“, ist – gepaart mit einem besorgten | |
| Blick der Lehrkraft – der eindeutige Warnhinweis, den viele Eltern ernten, | |
| wenn herauskommt, dass ihr Kind zu Hause nicht Deutsch spricht. Spätestens | |
| dann merken die Familien: Obwohl multikulturelle Klassen in Deutschland | |
| längst die Regel sind, ist der professionelle Umgang mit der mehrsprachigen | |
| Realität an unseren Schulen [1][noch immer Wunschdenken]. | |
| Laut der Hochrechnung des Mikrozensus hatte 2019 rund ein Drittel der | |
| Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen | |
| in Deutschland einen Migrationshintergrund. Eine Kleine Anfrage der FDP | |
| ergab, dass 2019 rund ein Fünftel der Kitakinder zu Hause vorrangig eine | |
| andere Sprache als Deutsch spricht. Gerade, wenn Schülerinnen und Schüler | |
| in der Familie nicht Englisch oder Französisch, sondern Türkisch, Arabisch | |
| oder Polnisch sprechen, wird das Potenzial mehrsprachig aufwachsender | |
| Kinder jedoch noch immer unterschätzt. Dass Lernende an ihrer Schule oder | |
| im unmittelbaren Wohnumfeld herkunftssprachlichen Unterricht erhalten, ist | |
| öfter Ausnahme als Regel. | |
| Kinder von Mehrsprachigkeit nicht überfordert | |
| „Für den Sprachunterricht meiner Kinder mussten wir regelmäßig mitten am | |
| Tag durch die ganze Stadt fahren“, berichtet Kötschau-Krilic. Mit der | |
| Pandemie geht der herkunftssprachliche Unterricht online. Doch sie und ihr | |
| Mann müssen jetzt neben ihrem Homeoffice schon das „normale“ Homeschooling | |
| der Kinder stemmen. Den Bosnischunterricht haben sie deshalb zunächst | |
| einmal ausgesetzt. | |
| Dabei ist der herkunftssprachliche Unterricht für die Kinder und | |
| Jugendlichen enorm wichtig, wie Anna Mróz, Sprachwissenschaftlerin und | |
| Fremdsprachendidaktikerin an der Universität Greifswald, erklärt. „Durch | |
| ihre Herkunftssprache bekommen Kinder den Schlüssel zur eigenen Identität“, | |
| sagt Mróz, die im Rahmen verschiedener Projekte mehrsprachige Familien | |
| berät. Entgegen der landläufigen Meinung überfordere Mehrsprachigkeit | |
| Kinder nicht. | |
| „Das kindliche Gehirn ist von Geburt an, mindestens aber bis zum Ende der | |
| Kita-Zeit, unglaublich plastisch“, sagt die Linguistin. Wenn Kinder zwei | |
| Worte für einen Gegenstand lernen, dann bedeute das einen großen kognitiven | |
| Entwicklungsschritt. „Auf diese Weise werden Sprachkompetenzen, | |
| Sprachbewusstsein und Sprachsensibilität besonders gefördert.“ | |
| Allerdings hängt die Entwicklung von mehrsprachigen Kindern immer auch von | |
| der Qualität und der Quantität des Sprachinputs ab. Die | |
| Sprachwissenschaftlerin hat bei ihrer Arbeit die Erfahrung gemacht, dass | |
| gerade Eltern, die mit ihren Kindern nicht Englisch oder Französisch | |
| sprechen, in Beratungsstellen häufig davon abgeraten wird, zu Hause in | |
| ihrer Herkunftssprache zu kommunizieren. | |
| Mehrere Bundesländer bauen Programme aus | |
| Mit schwerwiegenden Konsequenzen für die Sprachentwicklung der Kinder: „Es | |
| gibt viele Forschungsergebnisse, die belegen, dass je besser die | |
| Herkunftssprache entwickelt worden ist, desto schneller und effizienter | |
| danach auch die Umfeldsprache, also das Deutsche, erworben werden kann“, so | |
| Mróz. Herkunftssprachlicher Unterricht an den Schulen könne den Kontakt, | |
| den mehrsprachige Kinder zu ihren Herkunftssprachen haben, deutlich | |
| verbessern, erklärt Mróz. | |
| In vielen Bundesländern hat sich diese Erkenntnis mittlerweile | |
| durchgesetzt. Laut einer Recherche des Mediendienstes Integration können | |
| Kinder und Jugendliche mittlerweile in zwölf Bundesländern | |
| herkunftssprachlichen Unterricht besuchen. Vier Länder stellen sich gegen | |
| den Trend: In Bayern und Baden-Württemberg wird der Unterricht nur an | |
| Konsulaten angeboten. In Sachsen-Anhalt und Thüringen gibt es gar keinen | |
| herkunftssprachlichen Unterricht. | |
| Gleichzeitig bauen einige Bundesländer die staatlichen Angebote weiter aus, | |
| mit eigenen Unterrichtsmaterialien, Lehrplänen und Lehrkräften. In der | |
| Regel können Schülerinnen und Schüler herkunftssprachlichen Unterricht | |
| hier als freiwilligen zusätzlichen Unterricht an der Grundschule wählen. | |
| Teilweise besteht aber auch die Möglichkeit, Herkunftssprachen als zweite | |
| oder dritte Fremdsprache zu wählen – mit zusätzlichen Sprachprüfungen in | |
| der neunten oder zehnten Klasse oder auch im Rahmen des Abiturs. | |
| Im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen hat staatlich | |
| organisierter herkunftssprachlicher Unterricht eine lange Tradition. Im | |
| Rahmen des HSU lernen hier im Moment etwa 100.000 Kinder 23 verschiedene | |
| Sprachen. Das habe auch mit der langen Einwanderungsgeschichte des | |
| Bundeslandes zu tun, findet Thorsten Klute. Der ehemalige Staatssekretär im | |
| nordrhein-westfälischen Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales | |
| ist heute Vorstandsvorsitzender der AWO Ostwestfalen-Lippe. | |
| Hamburg will Selbstbewusstsein der Kinder stärken | |
| Wenn es um den Ausbau des herkunftssprachlichen Unterrichts geht, plädiert | |
| Klute für Geduld: „Man wird es in keinem Bundesland hinbekommen, | |
| herkunftssprachlichen Unterricht von heute auf morgen einzuführen.“ Wichtig | |
| ist ihm, dass es bei staatlichen Sprachangeboten nicht nur um jedes | |
| einzelne Kind, sondern um die Gesellschaft als Ganzes geht: „Wir müssen | |
| auch politisch erkennen, dass Herkunftssprachen, wenn sie staatlich | |
| gefördert werden, kein Klotz am Bein sind, sondern ein gesellschaftlicher | |
| Schatz, den man pflegen muss.“ | |
| Im direkten Vergleich der Bundesländer fällt neben Nordrhein-Westfalen auch | |
| Hamburg auf. Erklärtes Ziel der Hansestadt ist es, das Selbstbewusstsein | |
| von Kindern und Jugendlichen in Bezug auf ihre Mehrsprachigkeit zu stärken. | |
| „Wir versuchen die Grenzen zwischen dem fremdsprachlichen Unterricht und | |
| dem herkunftssprachlichen Unterricht fließend zu gestalten“, erklärt Eric | |
| Vaccaro, der das Referat für Bildungschancen in der Hamburger Schulbehörde | |
| leitet. „Das heißt, dass Schülerinnen und Schüler, die | |
| herkunftssprachlichen Unterricht zunächst als ein freiwilliges | |
| Zusatzangebot gewählt haben, diese Sprache im Verlauf ihres weiteren | |
| Bildungsweges problemlos zu ihrer ‚offiziellen‘ zweiten oder dritten | |
| Fremdsprache machen können.“ | |
| So hätten sie zum Beispiel die Möglichkeit, anstelle von Spanisch oder | |
| Französisch Türkisch oder Arabisch als Fremdsprache zu wählen. Wo immer | |
| möglich, betont Vaccaro, wünsche man sich in Hamburg „Angebots-Ketten“: | |
| „Wenn sie möchten, sollen Kinder schon in der Grundschule mit dem | |
| herkunftssprachlichen Unterricht beginnen können und die Möglichkeit haben, | |
| den Sprachunterricht im besten Fall bis zum Abitur fortzusetzen.“ | |
| Mehrsprachigkeit als Ressource und als ein großes Potenzial erkennen, das | |
| möchte neben Hamburg noch ein anderer Stadtstaat: Berlin. In der Hauptstadt | |
| hat laut Schulstatistik jeder dritte Schüler eine Zuwanderungsgeschichte. | |
| „Wir haben mit dem Ausbau des herkunftssprachlichen Unterricht im Frühjahr | |
| 2018 begonnen“, sagt Fatih Özcan von der Berliner Senatsverwaltung für | |
| Bildung, Jugend und Familie. Bisher können in der Hauptstadt türkisch-, | |
| arabisch- und kurdischstämmige Grundschülerinnen und Grundschüler ihre | |
| Herkunftssprache im Rahmen des herkunftssprachlichen Unterrichts lernen. | |
| Unterrichtsangebote in weiteren Sprachen sollen folgen. | |
| Berlin im „Erweiterungsprozess“ | |
| „Im Moment befinden wir uns in einem Planungs- und Erweiterungsprozess“, so | |
| Özcan. Allerdings behindert Corona diese Entwicklung gerade. Denn wie viele | |
| andere Schulbehörden befindet sich auch die Berliner Senatsverwaltung in | |
| Zeiten von Kohortenunterricht, Schulschließungen und Fernunterricht im | |
| Ausnahmemodus. | |
| Wie langsam der Erweiterungsprozess vorangeht, bekommen Berliner Familien | |
| wie die von Amra Kötschau-Krilic zu spüren. Noch immer gibt es in ihrem | |
| Bezirk kaum staatlich organisierte Sprachangebote, obwohl man hier mit der | |
| stärksten Bevölkerungszunahme innerhalb Berlins rechnet – bis 2030 um mehr | |
| als 16 Prozent. Doch die Familien stehen nicht alleine da. Sprache ist ein | |
| Thema, das viele beschäftigt; Verwaltung und Migrantenvereine | |
| kommunizieren auf Augenhöhe. | |
| Gemeinsam hat man den Arbeitskreis „Lingua Pankow“ gegründet. Als die | |
| Pandemie kam, verlegte er seinen Veranstaltungskalender kurzerhand ins | |
| Internet und hat seitdem unter anderem eine Podiumsdiskussion mit den | |
| fachpolitischen Sprecherinnen und Sprechern der Fraktionen sowie | |
| bilinguale Märchentage organisiert. | |
| Regelmäßig dabei war Nina Tsonkidis, die Integrationsbeauftragte im Bezirk. | |
| Tsonkidis ist erst seit Kurzem im Amt, weiß aber aus eigener Erfahrung, | |
| dass die Förderung von Mehrsprachigkeit nicht immer einfach ist. Ihr Vater | |
| kommt aus Griechenland, ihre Mutter aus Kroatien: „Wenn ich zurückblicke, | |
| gab es in meinem Leben sehr viele Situationen, in denen ich mich mit | |
| Sprache und Identität auseinandersetzen musste, aber eben auch | |
| rechtfertigen musste. Das begleitet einen“, erzählt die Pankower | |
| Integrationsbeauftragte. | |
| Wie in so vielen anderen Migrantenfamilien ist auch in ihrem Elternhaus | |
| Deutsch die [2][Sprache des Aufstiegs]: „Für meinen Vater war es immer sehr | |
| wichtig, dass ich perfekt Deutsch spreche. Dafür hat er das Griechische in | |
| den Hintergrund gestellt.“ | |
| 6 Mar 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Gabriele Voßkühler | |
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